Hedda und Enno hatten sich ein abgelegenes Plätzchen in der hintersten Ecke der Fähre ausgesucht. Überraschenderweise war das große Schiff, auch nachdem es vom Hafen in Norddeich Mole abgelegt hatte, nicht bis auf den letzten Platz besetzt. Die beiden jungen Ermittler erklärten sich diesen Umstand dadurch, dass die Verbindung nach Norderney tideunabhängig war und die Fähren deshalb nahezu im Stundentakt zwischen dem Festland und der Ostfriesischen Insel pendeln konnten. Auf jeden Fall war es ihnen ganz recht, etwas abseits der übrigen Touristen sitzen zu können. So hatten sie die Möglichkeit, sich während der knapp einstündigen Überfahrt gedanklich noch einmal auf ihren neuen Einsatz vorzubereiten.
Seit ihrer Abreise von der Insel Borkum waren gerade einmal vier Tage vergangen. Jörg, der Leiter ihrer Geheimeinheit, hatte ihnen nicht viel Zeit gelassen, um sich von der erfolgreichen Aufklärung des Mordes an dem aufstrebenden Jungschauspieler Alexander Wagner zu erholen.
In Gedanken versunken dachte Enno an die Jugendlichen, die er jetzt eigentlich in Wilhelmshaven betreuen sollte. Es gefiel ihm überhaupt nicht, seine Aufgaben als Streetworker auf unbestimmte Zeit ruhen zu lassen. Aber Jörg hatte ihm in dieser Frage keine Wahl gelassen. Genau wie Hans, Karsten, Renate und der Geheimdienstleiter selbst mussten auch Hedda und er so schnell wie möglich nach Norderney reisen, um dort zukünftig Augen und Ohren offen zu halten. Der aktuelle Fall war so wichtig, dass zum ersten Mal alle Mitglieder der Einheit gleichzeitig in die Ermittlungen einstiegen.
»Wo bist du mit deinen Gedanken?«, fragte Hedda ihren Freund.
»Ach, ich denke nur an meine Jungs«, gab Enno ehrlich zu.
Die junge Ermittlerin legte ihre Hand auf seine. »Die kommen bestimmt auch eine Zeit lang ohne dich zurecht. Immerhin bist du ja auch nicht der einzige Streetworker in Wilhelmshaven«, versuchte sie ihn zu beruhigen.
»Das stimmt schon. Aber meine Kollegen haben auch alle mehr Arbeit, als sie bewältigen können. Ihnen eine Krankheit vorzugaukeln, um auf unbestimmte Zeit der Arbeit fernbleiben zu können, war schon ein blödes Gefühl. Alle haben Verständnis gezeigt und mir gute Besserung gewünscht. Wenn die wüssten, warum ich wirklich …« Unzufrieden schüttelte er mit dem Kopf.
»Vielleicht dauern unsere Ermittlungen ja auch gar nicht so lange und du kannst sie schon bald wieder unterstützen«, versuchte Hedda weiter, ihm sein schlechtes Gewissen zu nehmen.
Enno schaute seiner Freundin tief in die Augen. »Der neue Fall geht mir jetzt schon echt an die Nieren. Ich weiß nicht, wie lange ich diesen Druck aushalten kann.«
Hedda wusste sofort, worauf ihr Freund anspielte. In einem Mordfall zu ermitteln, war eine Sache, aber dieses Mal wurden sie losgeschickt, um einen Mord zu verhindern. Der Druck, den die beiden angesichts dieser Aufgabe verspürten, war unerträglich. »Wir dürfen uns nicht verantwortlich fühlen, falls wir den Mord nicht verhindern können. Wir suchen eine Nadel im Heuhaufen. Falls der Killer wirklich auf der Insel zuschlägt, müssen wir halt dafür sorgen, dass er zumindest hinterher gefasst wird und nicht noch mehr schreckliche Morde begehen kann.« Sie drückte Ennos Hand noch ein wenig fester. »Vielleicht schlägt er ja auch gar nicht auf der Insel zu und der Hinweis war nur ein Ablenkungsmanöver.«
Die beiden jungen Ermittler dachten in diesem Moment zeitgleich an die Fotografien, die Jörg ihnen zur Vorbereitung auf diesen Fall geschickt hatte. Bei einem Mordopfer in Silberhausen war ein kleiner Zettel gefunden worden, auf den der Täter folgenden Reim gedruckt hatte:
Von Silberhausen bis Norderney,
mit der Ewigkeit ist es bald vorbei.
Wie gegeben, so genommen,
keiner wird meiner Rache entkommen.
Ich zieh euch alle in meinen Bann,
bis niemand von euch mehr das Licht sehen kann.
∞
Silberhausen war ein kleines Dorf und gehörte zur Stadt Dingelstädt, die im thüringischen Landkreis Eichsfeld lag. Dort wurde vor wenigen Wochen Ronny Pütsch tot in seiner Wohnung gefunden. Der fettleibige, zurückgezogen lebende Mann war mit unzähligen Messerstichen ermordet worden. Bis heute gab es keine Spur von seinem Mörder. Ronny war arbeitslos gewesen und hatte nahezu keine menschlichen Kontakte. Seine heruntergekommene Wohnung teilte er sich mit unzähligen Wellensittichen, die er frei herumfliegen ließ. Bei der späteren Entrümpelung seiner Messi-Behausung fand man zudem noch einige Ratten, von denen man nicht wusste, ob er sie selbst in die Wohnung gelassen hatte oder ob sie ungefragt eingezogen waren.
Doch dieser eine Mord und der Hinweis auf dem Zettel waren nicht der ausschlaggebende Grund dafür gewesen, dass Hedda und Enno jetzt auf der Fähre saßen, die auf Norderney zusteuerte. In den Wochen nach Ronnys Tod hatte es noch drei weitere Morde im Umkreis von Silberhausen gegeben.
Der zweite Mord geschah in Meiningen, einer Kreisstadt im Süden Thüringens. Die Fahrtstrecke zwischen den beiden Tatorten betrug etwa einhundert Kilometer. Das Opfer hieß Niko Kleinau. Er war fünfundzwanzig Jahre alt und hatte als Auslieferer bei einem Paketdienst gearbeitet. Die Nachbarin hatte ihn tot in seiner Wohnung gefunden. Er lag dort, mit zahlreichen Stichwunden übersät, auf einem Haufen Pakete, die er nicht ausgeliefert hatte, weil er deren Inhalt lieber für sich behalten wollte. Auf einen Notizzettel, der eigentlich zur Benachrichtigung der nicht angetroffenen Paketempfänger bestimmt war, war in großen Druckbuchstaben Folgendes zu lesen:
Die zweite Warnung ist überbracht,
der Götterbote nie mehr erwacht.
Der erste Stopp auf meiner Reise,
auch die schnellsten Opfer sterben leise.
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Das dritte Opfer des Serienkillers wurde in Vienenburg gefunden. Von Silberhausen aus betrug die Autostrecke zu dem Goslarer Stadtteil einhundertsechzehn Kilometer. Hier war das Opfer zum ersten Mal eine Frau, die ihre weiblichen Reize nicht aus finanzieller Not, sondern stets aus Habgier eingesetzt hatte. Mit gerade einmal Anfang dreißig war sie schon zweimal von deutlich älteren Männern geschieden worden und hatte nach jeder Trennung einen beträchtlichen Vermögensanteil ihrer äußerst wohlhabenden Ex-Ehemänner zugesprochen bekommen. Auch sie wurde mit unzähligen Messerstichen hingerichtet. Bei ihr hinterließ der Killer ebenfalls einen Reim:
Deine Schönheit hat sie blind gemacht,
doch jetzt beherrscht auch dich die endlose Nacht.
Besonders wie der Leuchtturm auf Norderney,
dennoch warst du nie wirklich frei.
Du hast uns schon früh unser Ende prophezeit,
doch für dich war es bereits heute soweit.
112,5
Der dritte Mord des Reim-Killers, wie die Sonderkommission der Polizei den Täter intern getauft hatte, lieferte dabei schon den zweiten Hinweis auf die Ostfriesische Insel. Genau zu diesem Zeitpunkt entschied Edgar, der verantwortliche Politiker aus dem Innenministerium, die Geheimeinheit auf die Insel zu entsenden, um dort einen möglichen Mord des Serientäters bereits im Vorfeld zu verhindern. Dass der Mörder, der unter jedem Reim stets eine Zahl hinterließ, aber tatsächlich auch auf Norderney zuschlagen würde, war allenfalls eine Vermutung. Ebenso gut war es möglich, dass der Killer die Nordseeinsel nur zur Ablenkung nutzte, um seine Jäger auf die falsche Fährte zu locken.
Der vierte und bisher letzte Mord, der dem Reim-Killer zugeschrieben wurde, ereignete sich vor zwei Tagen. Hedda und Enno erfuhren davon, während sie gerade damit beschäftigt waren, alles für ihre Überfahrt nach Norderney vorzubereiten. Jörg hatte sie per Telefon darüber informiert, dass der Gesuchte dieses Mal in Eilenburg, einer Stadt im Nordwesten von Sachsen, zugeschlagen hatte. Von Silberhausen, dem Tatort des ersten Mordes, lag der Ort etwa zweihundertzwanzig Kilometer entfernt. Dieses Mal hatte es wieder ein männliches Opfer gegeben.
Marcel Bauer, ein selbst ernanntes Unterwäsche-Model aus Leipzig, war gemäß den Angaben seiner Familie zu einem Fotoshooting in die kleine Stadt gereist. In den sozialen Medien präsentierte er sich häufig als eines der gefragtesten deutschen Models, hatte allerdings in Wirklichkeit noch nie einen echten Auftrag bekommen. Da die Polizei trotz intensiver Suche keine Agentur finden konnte, die Marcel Bauer an seinem Todestag gebucht hatte, gingen die Beamten davon aus, dass der spätere Mörder sein Opfer unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in die Falle gelockt hatte.
Neben der lediglich in Unterhose bekleideten Leiche fand die Polizei einen Zettel, auf dem Folgendes geschrieben stand:
Du hieltest dich für den Mittelpunkt der Welt,
träumtest stets von Ruhm und Geld.
Das Licht der Scheinwerfer zog dich an,
nun bist du entlassen aus seinem Bann.
121,67
Hedda war die Erste, die aus ihren Gedanken wieder zurück in die Gegenwart fand. »Wir müssen einfach wachsam sein und nach Menschen Ausschau halten, die in das Beuteraster unseres Killers passen«, fasste sie die bisherigen Erkenntnisse der Polizeipsychologen zusammen.
Da zwischen den vier Opfern keinerlei Verbindung hergestellt werden konnte, suchte man aktuell nach einem religiös verblendeten oder vielleicht sogar schizophrenen männlichen Täter. Die Profiler gingen davon aus, dass er sich Menschen als Opfer auswählte, deren Lebenswandel nicht der Norm entsprach.
Karsten, der Computerprofi der Einheit, hatte diese Theorie kurz vor der Abfahrt der Fähre noch ein wenig verfeinert und seine Gedanken gleich per E-Mail an alle Teammitglieder weitergeleitet. Er hielt es demnach für möglich, dass der Killer, ähnlich wie im Film »Sieben« mit Brad Pitt, ein Exempel an denen statuieren wollte, die eine der sieben Todsünden begangen hatten.
»Aber irgendwie glaube ich nicht an Karstens Todsünden-Story.« Enno schüttelte den Kopf. »Klar, dem ersten Opfer kann man sicherlich Völlerei vorwerfen. Ich meine, der war so dick, dass seine Leiche kaum auf das Foto der Polizei gepasst hat. Aber in puncto Trägheit war er sicherlich auch ein Kandidat. Oder glaubst du etwa, unser Täter hat so zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen wollen?«
Hedda schüttelte verneinend den Kopf. Auch ihr kam die Anlehnung an den Ritualmörder aus dem in die Jahre gekommenen Hollywood-Blockbuster etwas weit hergeholt vor. Da sie sich mit psychisch kranken Tätern aber überhaupt nicht auskannte, wollte sie diese Option auch nicht sofort über Bord werfen. Immerhin war es der einzige wirkliche Anhaltspunkt, den sie bisher hatten.
»Und während Ronny gleich zwei Todsünden abdeckt, passen der diebische Paketbote und die berechnende Ehefrau doch, wenn überhaupt, beide nur in die Kategorie Habgier«, untermauerte Enno seine Skepsis an Karstens Theorie weiter.
Hedda zuckte hilflos mit den Schultern. Dann kramte sie einen kleinen Zettel aus ihrer Handtasche, auf dem sie die sieben Todsünden aufgelistet hatte, und legte ihn auf den Tisch. »Ich könnte mir aber auch vorstellen, dass er die attraktive Frau, die ihren Ex-Männern mit ihrer Anmut den Kopf verdreht hat, unter Wollust abgehakt hat«, sagte sie und fuhr mit dem Zeigefinger nachdenklich über das entsprechende Wort auf dem Papier. »Oder aber es ist ihm überhaupt nicht wichtig, für jede Todsünde genau ein exemplarisches Opfer zu finden«, spekulierte sie weiter.
Nachdenklich kaute der ehemalige Polizist auf seiner Unterlippe herum. »Wenn das wirklich der Modus Operandi unseres Täters wäre, würde es uns die Arbeit unter Umständen erleichtern. Dann würde er wahrscheinlich noch zwei weitere Menschen töten, bevor er auf Norderney sein letztes Opfer suchen würde. Dann wäre immerhin nur noch eine Todsünde übrig, auf die wir uns dann bei unserer Opfersuche voll konzentrieren könnten.«
Hedda ging noch einmal die verbliebenen Todsünden durch. »Wenn man das selbst ernannte Unterwäsche-Model in die Rubrik Stolz packt …« Symbolträchtig tat sie so, als würde sie mit ihrem Finger ein Häkchen hinter das Wort auf der Liste setzen. »… blieben noch die Todsünden Zorn, Neid und Trägheit übrig. Richtig leicht wird es dann aber auch nicht. Mir wäre in diesem Fall deutlich lieber gewesen, er hätte sich das Völlerei-Opfer bis zum Schluss aufgespart«, entgegnete sie mit einer ordentlichen Prise schwarzem Humor.
Auch Enno musste lachen. »Ja, da hast du absolut recht. Wobei es mittlerweile ja erschreckend viele fettleibige Menschen gibt.«
»Auf jeden Fall will er uns mit den blöden Reimen und den merkwürdigen Zahlen darunter irgendetwas sagen. Entweder spielt er mit uns …«
»… oder er verarscht uns!«, beendete Enno den Satz.