1. Kapitel


Ein neuer Fall


Seit der Versöhnung mit ihren Familien waren schon wieder fünf Monate vergangen. Eine Zeit, in der sich Hedda und Enno fast schon an so etwas wie ein normales Leben gewöhnt hatten. Schon lange hatten sie keine Leiche mehr gesehen, und auch zu Jörg und den anderen Mitgliedern der Spezialeinheit gab es allenfalls sporadischen Kontakt.
Enno kümmerte sich weiterhin mit Herzblut um seine Aufgaben als Streetworker. Die Arbeit mit den Jugendlichen bedeutete ihm sehr viel und machte ihm meistens auch großen Spaß. Den Wechsel von der Polizei hätte er deshalb selbst dann nicht bereut, wenn er nicht noch ab und an schwierige Mordfälle aufklären dürfte.
Auch Hedda war fleißig gewesen und hatte vor wenigen Wochen ihren ersten Kriminalroman fertiggestellt. Die Erfahrungen aus ihren bisherigen Ermittlungen hatten ihr dabei sehr geholfen. Dennoch hatte sie darauf geachtet, nicht zu viel von ihrem Erlebten in den Roman einfließen zu lassen. Schließlich durfte niemand eine Parallele zwischen der neuen Autorin und der blutjungen Ermittlerin entdecken.
Mit dem Verlag hatte sie sich darauf verständigt, alle ihre Werke unter dem Pseudonym »Hedda Müller« zu veröffentlichen. Ihr gefiel die Kombination, die aus ihrem echten Vornamen und dem Nachnamen der erfundenen Reporterin bestand, deren Scheinidentität ihr bei den Ermittlungen schon mehrfach geholfen hatte.
Aufgeregt klappte Hedda den Laptop auf. Irgendwann in den nächsten Stunden sollte ihr Roman zumindest als E-Book in den Onlineshops erhältlich sein. Sie war so aufgeregt, dass sie schon seit Tagen ein flaues Gefühl im Magen hatte und ungewöhnlich häufig auf die Toilette musste. Würden die Leser ihr Buch mögen oder würde ihr Roman mit bösen und abwertenden Kritiken überzogen werden, wie sie es bei anderen Autoren schon beobachten konnte? Manche Leser schienen ja ihre reine Freude daran zu haben, die Träume der hoffnungsvollen Schreiberlinge mit einem lauten Knall zerplatzen zu lassen.
Mit zitternden Händen gab sie ihr Pseudonym in die Suchleiste eines Online-Buchhändlers ein und betätigte die Enter-Taste.
Da ist es! Hedda stieß einen lauten Jubelschrei aus. Am liebsten hätte sie jetzt die ganze Welt oder wenigstens Enno umarmt, aber der war gerade leider beruflich unterwegs. Aber mit irgendjemandem musste sie jetzt unbedingt ihr Glück teilen.
Sie nahm ihr Handy zur Hand und öffnete auf dem kleinen Gerät die gleiche Internetseite, die sie vor sich auf dem Laptop sah. Dann kopierte sie den Link und teilte ihn über WhatsApp und die sozialen Medien mit allen ihren Freunden und Verwandten.
Die erste Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Das Vibrieren ihres Smartphones zeigte einen eingehenden Anruf an. »Gesa«, rief Hedda glücklich in den Hörer. »Wir haben uns viel zu lange nicht mehr gesehen.«
Nachdem Gesa ihr zu der Veröffentlichung gratuliert und versprochen hatte, sich das Buch noch am selben Tag auf ihren E-Book-Reader herunterzuladen, vereinbarten die Freundinnen einen Termin, um mal wieder gemeinsam etwas zu unternehmen.
Sie telefonierten schon fast eine halbe Stunde lang miteinander, als Hedda plötzlich einen Ton vernahm, den sie schon sehr lange nicht mehr gehört hatte. Sie brauchte ein paar Sekunden, bis sie das elektronische Geräusch wieder zuordnen konnte. Es war ihr Diensthandy. Aufgeregt unterbrach sie das Gespräch mit Gesa, versprach aber, sie noch am selben Tag zurückzurufen.
Das Diensthandy klingelte mittlerweile schon fast zwei Minuten ohne Unterbrechung. Es muss also wirklich wichtig sein, dachte Hedda aufgeregt und nahm das Gespräch entgegen. »Hallo Jörg.«
»Moin Hedda«, begrüßte sie der Geheimdienstleiter hektisch. »Wie schnell könnt ihr am Emder Außenhafen sein?«
»Enno ist bei der Arbeit … Ich weiß nicht genau … Wieso?« Hedda fühlte sich mit der Beantwortung der Frage leicht überfordert.
»Ruf Enno an und kläre das mit ihm. Ihr müsst die nächstmögliche Fähre nach Borkum nehmen. Ruft mich an, wenn ihr die Zeit abschätzen könnt. Alle weiteren Informationen gebe ich euch dann auf dem Schiff.«

 

***


Für Enno war es nicht so einfach gewesen, kurzfristig von seiner Arbeitsstelle zu verschwinden. Die Zeit, in der Hedda ungeduldig auf ihren Freund warten musste, hatte die junge Ermittlerin genutzt, um für beide die Koffer zu packen. Dabei war sie sich ständig unsicher gewesen, was sie alles mitnehmen sollten. Schließlich fuhren sie ja nicht zum Urlaubmachen auf die größte Ostfriesische Insel, sondern höchstwahrscheinlich um in einem weiteren Mordfall zu ermitteln. Außerdem war das Wetter Ende Mai an der Nordseeküste keineswegs so beständig, dass man sich auf die bloße Mitnahme von Sommerkleidung beschränken konnte.
Nach etwas über einer Stunde Fahrtzeit erreichten sie endlich den Emder Außenhafen. Enno ließ Hedda direkt am Borkumanleger aussteigen, lud das Gepäck aus und fuhr noch einmal zurück, um für seinen Wagen einen geeigneten Parkplatz zu suchen. Neben Norderney war Borkum zwar die einzige Ostfriesische Insel, auf der auch Autos erlaubt waren, aber Enno sah keinen Sinn darin, seinen Polo mitzunehmen.
Da Hedda die drei vollgepackten Koffer ohnehin nicht alleine schleppen konnte, blieb sie dort stehen, wo Enno sie abgesetzt hatte, und schaute sich suchend um. Ob Jörg bereits hier ist?, fragte sie sich. Sie hatte den Geheimdienstleiter per Kurznachricht über ihre ungefähre Ankunftszeit informiert, aber seither keinerlei Reaktion von ihm erhalten.
Unzählige Menschen tummelten sich auf dem Gelände, zogen Koffer hinter sich her oder standen einfach nur herum und erzählten sich die Geschichten von ihrem letzten Borkum-Urlaub. Viele von ihnen schienen Wiederholungstäter zu sein. Die Insel hatte anscheinend eine magische Anziehungskraft auf sie. Einige Touristen kehrten auch ins Fährhaus ein, um sich vor der Überfahrt noch schnell mit einer maritimen Leckerei zu stärken. Das vollkommen verglaste Gebäude mit dem gewölbten Dach lag nur wenige Meter von Heddas aktueller Position entfernt. Ob Jörg da drinnen auf uns wartet?
Hedda schaute auf ihre Armbanduhr. Die letzte Fähre hatten sie um etwa eine Stunde verpasst. Jetzt konnten sie nur noch hoffen, einen Platz auf dem Katamaran zu bekommen, der in einer Stunde und fünfundvierzig Minuten ablegen würde. Wenn sie aber der Homepage der Reederei glauben durfte, war das Schiff, das gleichzeitig ihre letzte Chance für eine heutige Überfahrt nach Borkum darstellte, bereits vollkommen ausgebucht.
»Hedda!«
Die junge Ermittlerin erkannte die dunkle Stimme ihres Vorgesetzten sofort. Sie drehte sich um und begrüßte ihren Chef. »Moin Jörg!«
»Moin! Wo ist Enno?« Suchend schaute sich der Geheimdienstleiter in der näheren Umgebung um.
»Er parkt den Wagen, müsste aber jeden Moment wieder hier sein.«
»Bin schon da!« Enno hatte sich den beiden von hinten genähert. Leicht außer Puste begrüßte er seinen Vorgesetzten mit einem kräftigen Händedruck.
Jörg schaute auf die Uhr. »Wir haben noch etwas Zeit, bevor der Katamaran ablegt. Kommt, wir gehen ins Café und suchen uns ein halbwegs ruhiges Plätzchen. Dann kann ich euch alles über eure neue Aufgabe erzählen.« Er schnappte sich einen der Koffer, zog ihn hinter sich her und steuerte auf das Selbstbedienungsrestaurant zu.
Hedda und Enno schnappten sich jeder eines der verbliebenen Gepäckstücke und folgten ihm.
In dem belebten Lokal einen ruhigen Platz zu finden, war ein Akt der Unmöglichkeit. Sowohl im Innenbereich als auch draußen auf der Terrasse waren alle Tische belegt. Die Urlauber versuchten alle, ihre Wartezeit so entspannt wie möglich zu verbringen.
Irgendwie hatten sie es dann aber doch geschafft, sich einen der begehrten Plätze zu sichern. Während Jörg unterwegs war, um Kaffee und Kuchen für die anstehende Besprechung zu besorgen, schaute sich Enno unsicher zu den Leuten an den Nebentischen um. Sie unterhielten sich so lautstark, dass er jedes einzelne Wort mitanhören konnte. Na ja, so können sie wenigstens nicht verstehen, was wir gleich zu besprechen haben, dachte er erleichtert und lehnte sich in seinen Stuhl zurück. »Bist du auch so aufgeregt?«
»Was?« Hedda schaute überrascht zu ihrem Freund auf. Sie hatte gerade auf ihrem Handy überprüft, ob bereits irgendjemand ihr Buch gekauft hatte.
»Was machst du da?« Enno neigte seinen Kopf zu ihr herüber und betrachtete das Display ihres Smartphones. »Hat schon jemand dein Buch gekauft?«
Enttäuscht presste Hedda die Lippen aufeinander und schüttelte leicht mit dem Kopf. »Soweit ich sehen kann, leider noch nicht.«
»Woran kannst du das denn erkennen? Zeigt dir das dieses Online-Tool an, von dem du mir erzählt hast?«
»Nein, dort sehe ich immer nur die zusammengefassten Verkäufe des Vortages. Aber einige Online-Händler berechnen für die bei ihnen angebotenen Bücher Verkaufsränge. Leider hat mein Buch noch nirgends einen solchen Rang erhalten. Ich muss also davon ausgehen, dass es noch niemand gekauft hat.«
»Lass den Kopf nicht hängen, das wird bestimmt noch!«, versuchte Enno sie aufzumuntern. »Heute startet doch erst der Verkauf, richtig?«
Hedda nickte.
»Na siehst du. Es muss sich halt erst rumsprechen, dass da ein neuer Stern am Autorenhimmel aufgegangen ist.«
»Wahrscheinlich hast du recht!« Sie lächelte ihren Freund an. Zum Glück war er häufig ein unverbesserlicher Optimist.
»Meine Güte, das geht hier ja zu wie beim Schlussverkauf im Discounter.« Sichtlich genervt stellte Jörg das vollbepackte Tablett auf den Tisch und setzte sich. Dann verteilte er die Kaffeebecher und die Kuchenstücke.
»Sollten wir nicht erst einmal zusehen, dass wir noch drei Tickets für den Katamaran bekommen?« Siedend heiß fiel Hedda der rote Balken ein, der auf der Homepage der AG Ems den ausverkauften Status des Schiffes verdeutlicht hatte.
»Das habe ich doch schon längst erledigt!« Zufrieden grinsend zog Jörg sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche, fischte zwei Tickets heraus und legte sie mittig auf den Tisch.
»Zwei?«, fragte Enno ungläubig. »Und was ist mit dir? Kommst du nicht mit?«
»Also zunächst einmal war es schon schwer genug, überhaupt zwei Tickets zu bekommen. Der Kahn war nämlich vollkommen ausgebucht.«
»Und wie bist du dann an die Karten gekommen?«, fragte Hedda.
Der Geheimdienstleiter grinste. »Wisst ihr, was Fluggesellschaften machen, wenn sie ihren Flieger mal wieder überbucht haben?«
»Sie bieten den Passagieren Geld an, damit sie einen späteren Flug nehmen«, beantwortete Enno die Frage.
»Du hast irgendwelchen Urlaubern die Tickets abgekauft?«, fragte Hedda ungläubig. »Wer hat denn das gemacht? Schließlich ist der Katamaran doch auch deren letzte Chance, um heute noch auf die Insel zu kommen.«
»Ich habe ein Auge für Leute, die Geld brauchen. Außerdem wisst ihr ja auch nicht, was mich der Deal gekostet hat. Für mein Angebot hätte ich auch auf einen halben Urlaubstag verzichtet.«
Hedda und Enno schauten sich staunend an. Der vor ihnen liegende Fall musste verdammt wichtig sein, wenn ihr Chef die Portokasse schröpfte, nur um sie einen halben Tag eher auf der Insel zu wissen.
»Was ist denn eigentlich passiert?«, fragte Enno. »Ich habe noch gar nichts über einen Mord auf Borkum gehört.«
»Pst!« Jörg legte einen Zeigefinger vor die Lippen und bedachte seine jüngsten Teammitglieder mit einem stechenden Blick. Er beugte sich über den Tisch und senkte die Stimme. »Davon weiß ja auch noch nicht einmal die Polizei.«