Prolog

 

Die Obduktion

 

Rechtsmediziner Klaus Schlosser-Beckmann hasste Tage wie diesen. An sich machte es ihm nicht viel aus, die Körper von verstorbenen Menschen zu öffnen und in ihrem Innersten nach den Gründen zu suchen, warum ihr Leben ein nicht vorhersehbares Ende genommen hatte. Den kaum kontrollierbaren Brechreiz, den jeder Normalsterbliche bei dem Anblick und den Gerüchen haben würde, die diese Arbeit nun mal mit sich brachte, hatte er längst überwunden.

Das Einzige, was ihm nach wie vor aber noch immer schwer zu schaffen machte, waren die Schicksale der Toten. Vor ihm lag der blasse, leblose Körper eines jungen Mannes. Ein Teenager, der bis auf wenige Wochen genauso alt war wie sein eigener Sohn. Eine Situation, die es ihm schwer machte, nicht die Fassung zu verlieren. Wie bei einer Zwangsstörung musste er sich immer wieder fragen, wie er sich fühlen würde, wenn seinem einzigen Kind so etwas Schreckliches zugestoßen wäre.

Auf einem kleinen rollbaren Beistelltisch neben dem Leichnam lag ein Klemmbrett mit einigen bedruckten Zetteln. Schlosser-Beckmann nahm den Bericht zur Hand und las, was dem jungen Mann angeblich zugestoßen sein sollte. Dann reichte er die Unterlagen an Lauren Anderson weiter. Seine junge Assistentin war erst vor einigen Jahren von Dänemark nach Deutschland gezogen und hatte sich schon vor dem Antritt ihres Studiums dazu entschlossen, irgendwann einmal Rechtsmedizinerin zu werden.

Schlosser-Beckmann schloss für einen Moment die Augen, atmete tief durch und versuchte, seine zwanghaften Gedanken zumindest für den Moment abzuschütteln. »Der arme Kerl soll beim Schwimmen in der Nordsee ertrunken sein. Wissen Sie, welche Anzeichen diese Annahme bestätigen würden?«

Seine junge Kollegin nickte ihm schweigend zu. Sie war klug, talentiert und obendrein auch wirklich hübsch, und er fragte sich oft, warum sie sich gerade für diesen Zweig der Medizin entschieden hatte. Er wünschte ihr, dass sie es besser als er schaffen würde, die Schicksale der Toten nicht so sehr an sich heranzulassen. Dass sie nicht nachts von ihnen träumen würde, so wie er es oft tat. 

Die äußere Leichenschau hatte, abgesehen von mehreren kreisrunden Blutergüssen, keine besonderen Auffälligkeiten ergeben. Schlosser-Beckmann reichte Anderson ein Skalpell. »Jetzt kommt Ihr Part!«, sagte er. Er wusste genau, dass er sich auf sie verlassen konnte. Dennoch tat er seine Pflicht und beobachtete jeden ihrer weiteren Handgriffe.

Nachdem Anderson den Torso geöffnet und die Organe freigelegt hatte, hielt sie kurz inne. »Durch den Wassereinschuss haben sich die Lungen stark geweitet. In der Körpermitte überlappen sie und verdecken dadurch sogar das Herz«, sagte sie an ihren Lehrmeister gewandt. Sie presste mit der Spitze ihres behandschuhten Zeigefingers vorsichtig auf das Gewebe. Eine leichte Delle blieb zurück. »Klarer Fall von Ertrinken, würde ich sagen.«

Der erfahrene Rechtsmediziner nickte, hob gleichzeitig aber mahnend seinen Zeigefinger. »Was müssen wir trotzdem noch überprüfen?«

»Ob er wirklich in der Nordsee ertrunken ist«, stöhnte seine Schülerin und verdrehte leicht genervt die Augen. In allen vergleichbaren Fällen, bei denen sie bisher dabei gewesen war, hatte sich diese Überprüfung im Nachhinein als unnötige Arbeit herausgestellt.

Schlosser-Beckmann hatte Verständnis für ihr Verhalten und tadelte sie deshalb nicht. Dennoch wusste er aus seiner langjährigen Berufserfahrung, wie wichtig es war, an alle Details zu denken und vor allem das Unerwartete für möglich zu halten. »Sie wissen, worauf Sie als Nächstes achten müssen?«

Lauren nickte und griff erneut zum Skalpell. Doch das, was sie sah, war nicht das, was sie erwartet hatte. Unsicher schaute sie ihren Lehrmeister an. »Ist das jetzt ein Fall für die Polizei?«, fragte sie ihn unsicher. Mit zusammengepressten Lippen stimmte der erfahrene Rechtsmediziner ihr zu. Und nicht nur für die, dachte er bei sich. Dann ging er in sein Büro und griff zu seinem Telefon. Dabei klopfte sein Herz so stark, als wäre er selbst gerade zum Agenten in einem spannenden Actionkrimi geworden. 

 

1. Kapitel

 

Die Entführung

 

15. November

 

Seit ihrer Rückkehr aus Wiesmoor waren bereits einige Monate vergangen. Dort hatten sie für die Geheimeinheit, für die sie jetzt schon einige Jahre tätig waren, mal wieder einen Mordfall gelöst. Wie immer, wenn sie auf einen neuen Auftrag warteten, hatten sie in der Zwischenzeit ihre jeweiligen Tarntätigkeiten aufgenommen. Während Enno wieder als Streetworker auf Wilhelmshavens Straßen unterwegs war, hatte Hedda sich ganz und gar der Arbeit an ihrem dritten Kriminalroman verschrieben, den sie, wie auch die vorherigen beiden Bände, unter dem Pseudonym Hedda Müller beim Krimens-Verlag veröffentlichen würde.

Auch jetzt saß sie in ihrer Wilhelmshavener Wohnung, die direkt am Bontekai lag. Die herbstliche Nachmittagssonne schien durch die großen Fenster des Erkers, in den sie sich mit ihrem Laptop zurückgezogen hatte, und erfüllte den Raum mit einer wohligen Wärme.

›Ende‹, las Hedda mehrfach das Wort, das sie unter die fertige Rohfassung ihres Buches getippt hatte. Sie liebte diesen Moment und hoffte, dass sie ihn noch sehr oft erleben durfte. Jetzt musste sie das Manuskript nur noch ein paar Male überarbeiten, letzte Rechtschreib- und Logikfehler korrigieren und dann konnte sie es endlich an den Lektor des Krimens-Verlages schicken.

Sie klappte den Laptop zu. Mit der Überarbeitung würde sie morgen beginnen. Jetzt wollte sie den Moment und das sonnige Herbstwetter noch ein wenig genießen. Hoffnungsvoll schaute sie auf die Uhr. Enno war mit zwei Streetworker-Kollegen und ein paar Jugendlichen zu einer Wanderung zum Südstrand unterwegs. Sie hoffte, dass er bald zurückkehren würde, damit die beiden den wunderschönen Tag gemeinsam ausklingen lassen konnten.

Sie ging in die Küche, aktivierte den Wasserkocher und bereitete sich einen belebenden Becher Ostfriesentee zu. Während der Beutel im gekochten Wasser vor sich hinzog, griff sie sich einen der großen mit Schokoladenstücken gespickten Kekse, steckte ihn sich zwischen die Zähne, schnappte den Becher und begab sich so zu dem nach Süden ausgerichteten Balkon. Sie setzte sich auf einen der Gartenstühle, stellte den Becher auf dem dazugehörigen Tisch ab und platzierte ihre Füße auf dem Sitzmöbel, auf dem ansonsten immer Enno saß.

Mit geschlossenen Augen ließ sie den Kopf in den Nacken fallen, sodass ihr die tiefstehende Sonne direkt ins Gesicht schien. Es war einfach nur herrlich. In diesem Moment hörte sie von unten die Stimmen von mehreren Jugendlichen. Sie legte den Keks, dessen Umfang größer war als der des Bechers, auf dessen Rand ab, stand auf und lehnte sich über das Geländer des Balkons. Unten an der Uferpromenade stand ihr Ehemann und verabschiedete sich gerade von seinen Kollegen und den Teenagern.

»Moin zusammen!«, rief sie vom dritten Stock herunter und winkte der Truppe lächelnd zu.

Enno formte seine Hände zu einem Trichter und hielt sie sich wie ein Megafon vor den Mund. »Ich komme gleich rauf!«

Voller Vorfreude ging Hedda in die Küche, um auch ihrem Mann einen Becher Tee zuzubereiten. Als sie gerade damit fertig war und ihm ebenfalls einen Keks zurechtlegte, hörte sie bereits die Wohnungstür. Mit dem Teebecher in der einen und dem schokoladenzersetzten Backwerk in der anderen Hand nahm sie ihn in Empfang. »Schön, dass du da bist!« Sie streckte ihren Kopf vor, spitzte die Lippen und erhaschte so den ersehnten Begrüßungskuss.

»Das ist ja ein toller Empfang«, sagte Enno. »Wollen wir auf den Balkon gehen? Dann kannst du mir in Ruhe erzählen, wie euer Ausflug war.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie voraus. Doch kaum hatte sie einen Fuß nach draußen gesetzt, entfuhr ihr ein greller Schrei.

»Was ist?« Mit einem panischen Gesichtsausdruck kam Enno auf den Balkon gestürzt. Er befürchtete, es wäre etwas Schreckliches passiert.

»Schau mal, da!« Heddas erster Schreck hatte sich gelegt und war einem breiten Schmunzeln gewichen. Auf dem Geländer des Balkons saß eine große Möwe und starrte die beiden unbeeindruckt an. Weder Heddas lauter Schrei noch der heranstürzende Enno hatten das Tier beeindruckt. 

»Ist das dein Keks?«, flüsterte Enno seiner Frau zu und zeigte dabei vorsichtig auf die kreisrunde Leckerei, die im Schnabel des Küstenvogels steckte.

»Ich befürchte, das war er.« Hedda verzog die Mundwinkel und zuckte hoffnungslos mit den Achseln.

Die Möwe schien nun doch auf Nummer sicher gehen zu wollen, hopste vollkommen gelassen vom Geländer, breitete die Flügel aus und flog davon, um ihre Beute in Sicherheit zu bringen. Während Hedda sich noch fragte, ob die Möwe um diese Jahreszeit nicht längst auf dem Weg in den Süden sein müsste und ob ihre vermeintliche Verspätung eventuell etwas mit dem Klimawandel zu tun haben könnte, bot Enno ihr an, seinen Keks mit ihr zu teilen.

»Teilen? Ich brauche einen ganzen Keks!« Blitzschnell riss sie ihm das Backwerk aus der Hand, führte es zum Mund und biss ein großes Stück heraus. »Du kannst dir einen neuen aus der Küche holen«, lachte sie ihren Mann schmatzend an, während sie den schokoladigen Geschmack auf ihrer Zunge genoss. Kopfschüttelnd lächelte Enno seine Frau an. »Gegen Kekse habe ich halt keine Chance.«

»Gut, wenn du das erkannt hast«, lachte Hedda. In diesem Moment klingelte Ennos Diensthandy. »Das ist bestimmt Jörg. Wurde aber auch Zeit«, sagte der Ermittler und griff in seine Hosentasche, um das Gerät herauszufischen.

»Hast du auf seinen Anruf gewartet?« Verblüfft schaute Hedda ihn an.

Enno schaute ebenso verwundert zurück. »Heute sollte doch das Urteil im Mordfall Ada Oltmanns gesprochen werden, hast du das etwa schon wieder vergessen?« Dann nahm er das Gespräch entgegen. Hedda schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Sie hatte sich in den letzten Stunden so sehr darauf fokussiert, ihren Roman zu vollenden, dass ihr dieser Termin tatsächlich vollkommen entfallen war. Der Hauptverdächtige war bis zum Schluss bei seiner Version der Geschichte geblieben. Dementsprechend gespannt waren sie, ob ihn das Gericht des Mordes für schuldig befinden würde.

»Moin Jörg«, begrüßte Enno seinen Vorgesetzten. »Warte kurz, ich stelle dich auf laut, damit Hedda mithören kann.«

Nachdem sich alle drei ausgiebig begrüßt hatten, kam der Geheimdienstleiter gleich auf den Punkt und berichtete ihnen vom Ausgang der Gerichtsverhandlung. Erleichtert atmeten Hedda und Enno auf. Sie hatten gehofft, dass die Richter so entscheiden würden.

»Wann hast du denn wieder einen neuen Fall für uns?«, fragte Hedda urplötzlich, nachdem sie sich noch ein wenig über den Verlauf des Prozesses unterhalten hatten. »Ich habe gerade meinen aktuellen Kriminalroman beendet. Zeitlich würde es mir daher ganz gut passen«, scherzte sie. Sie ging nicht wirklich davon aus, dass es in Ostfriesland zufälligerweise wieder einen unaufgeklärten Mordfall für sie gab.

Der Geheimdienstleiter schwieg einen Moment lang. »Eine neue Aufgabe habe ich bereits.« Er machte eine spannungsgeladene Pause. »Ich bin mir nur noch nicht sicher, ob ich euch oder Fiona und Keno darauf ansetzen soll.«