1. Kapitel

 

Upstalsboom

 

Unruhig saßen Hedda und Enno auf dem Bett im Gästezimmer und blätterten durch die drei Bücher, die ihnen Jörg am Vorabend überreicht hatte. Vollkommen unerwartet hatte der Leiter ihrer Geheimeinheit vor der Haustür von Heddas Onkel Willm gestanden und ihnen sein Geschenk übergeben. Dem Präsent hatte er einen Brief beigefügt, in dem er andeutete, dass die Bücher ihnen bei ihrem neuen Fall nützlich sein könnten. Doch worum es dabei ging und wohin sie ihr neuer Auftrag führen würde, darüber wollte er sie erst in einigen Tagen informieren.

Vor Enno lag die ›Satanische Bibel‹. Das Cover bestand aus einem weißen Pentagramm und einem pechschwarzen Hintergrund. Der ehemalige Polizist hatte während seiner Dienstzeit und auch in den letzten Jahren als Geheimdienstmitarbeiter schon viel erlebt, aber die wirren Ansichten, die bereits auf den ersten Seiten dieses Buches zusammengefasst worden waren, übertrafen wirklich alles.

Hedda hatte sich das Buch ›Kurze Antworten auf große Fragen‹ von dem 2018 verstorbenen Astrophysiker Stephen Hawking vorgenom­men. Beim Überfliegen der Kapitelüberschriften bekam sie schnell eine Ahnung davon, was mit dem Buchtitel gemeint war. Anschei­nend hatte der hochintelligente Mann sich mit genau den Fragen beschäftigt, die nahezu alle Menschen interessierten, aber auf die die Wissenschaft noch keine eindeutigen Antworten gefunden hatte.

Die Bibel, das dritte Buch, das die beiden von ihrem Chef geschenkt bekommen hatten, lag hingegen unbeachtet auf dem Nachttisch. Die beiden jungen Ermittler kannten die wesentlichen Inhalte der Heiligen Schrift noch aus der Schule und dem Konfirmanden­unterricht. Da ihr jeweiliger Schulabschluss noch nicht allzu lange zurücklag, reizten sie die unbekannten Inhalte der anderen Werke deshalb deutlich mehr.

Zeitgleich klappten sie die vor ihnen liegenden Bücher zu, seufzten auf, sahen sich an und ließen sich dann laut lachend auf die Matratze fallen. Nasenspitze an Nasenspitze lagen sie da und schauten sich verliebt in die Augen. Sie sprachen kein Wort, aber beide wussten, was der jeweils andere gerade dachte. Sie konnten einfach nicht warten, bis Jörg ihnen endlich mehr Informationen zukommen ließ. Sie mussten sofort wissen, welche Aufgabe er für sie vorgesehen hatte.

»Wir sind doch Ermittler!?« Hedda sagte es so, als ob es zugleich Aussage und Frage wäre.

»Die besten«, schmunzelte Enno und gab seiner Verlobten einen Kuss.

»Wäre doch gelacht, wenn wir nicht auch so herausbekommen, was Jörg mit uns vorhat.« Mit einer Energie, die sie sich vor wenigen Minuten noch nicht zugetraut hätte, schwang Hedda sich aus dem Bett, riss die Schublade des Schreibtisches auf, holte ihren Laptop heraus und kroch, mit dem Gerät in den Händen, zurück unter die kuschelige Bettdecke.

»Womit sollen wir anfangen?« Nachdenklich schaute Enno auf die Suchleiste des Internetbrowsers, der sich inzwischen auf dem Moni­tor aufgebaut hatte.

Hedda brummte nachdenklich. »Alle drei Bücher verbindet der Versuch, Antworten auf den Grund der menschlichen Existenz zu geben«, sagte sie, ohne den genauen Inhalt der beiden Publikationen, die erst in den letzten hundert Jahren veröffentlicht worden waren, im Detail zu kennen.

»Aber was könnte das mit unserem Fall zu tun haben? Es wird ja wahrscheinlich irgendwie im Zusammenhang mit einem unaufge­klärten Mord stehen, der sich in Ostfriesland ereignet haben muss.« In Gedanken versunken tippte Enno die Wörter ›Mord‹ und ›Ostfriesland‹ in die Suchleiste ein.

Da die jungen Ermittler bisher ausschließlich in Mordfällen inner­halb Ostfrieslands eingesetzt worden waren, hatte Hedda keinerlei Einwände. Die ›Satanische Bibel‹ scheint mir das außergewöhn­lichste der drei Bücher zu sein«, ergänzte sie nur, schrieb das Wort ›Satanismus‹ hinzu und betätigte anschließend die Enter-Taste.

Die Suchmaschine vermeldete über einhunderttausend Treffer. Einige der Ergebnisse, die relativ weit oben in der Liste standen, weckten die Aufmerksamkeit der beiden. Sie bezogen sich auf einen Vorfall, der sich vor einem Dreivierteljahr in Aurich, der zweit­größten Stadt Ostfrieslands, zugetragen hatte.

»Tod in Aurich – Wurde eine junge Ostfriesin von Satanisten getötet?«, las Enno die Überschrift des Zeitungsartikels vor, der sich nach dem einmaligen Klick auf das Suchergebnis öffnete.

 

Aurich/Rahe Beim Upstalsboom entdeckte ein Spaziergänger am gestrigen Morgen die Leiche einer jungen Frau. Sie lag, halb entkleidet, hinter der steinernen Pyramide. Die Polizei geht zum aktuellen Zeitpunkt von einem Gewaltverbrechen aus, wollte zu weiteren Details aus ermittlungstechnischen Gründen aber keine Angaben machen. DerAuricher Stimmewurde jedoch die Information zugespielt, dass die Leiche auf ihrer Stirn ein Brandmal getragen hat, das aussah wie das Symbol der Satanistischen Vereinigung Ostfriesland (SVO). Der Auricher Ortsverband, der eigenen Angaben zufolge seit Monaten einen stetigen Zulauf an neuen Mitgliedern verzeichnet, war auf Anfrage unserer Zeitung jedoch nicht zu einer Stellungnahme bereit. Ob es sich bei der toten Frau um ein Mitglied oder ein Opfer der Vereinigung handelt, ist daher noch unklar.

 

»Auricher Stimme«, murmelte Enno den Namen der Zeitung vor sich hin. »Habe ich noch nie gehört. Scheint wohl eher ein Revolverblatt zu sein.« Er mochte es gar nicht, wenn Medien mit wilden Spekulationen an die Öffentlichkeit gingen, ohne irgendwelche Beweise dafür zu haben. Ganz abgesehen davon hatte die Polizei sicherlich wohl überlegt, warum sie aus ermittlungstechnischen Gründen keine weiteren Informationen preisgeben wollte. Denn manchmal war es den Kriminalbeamten nur so möglich, bei späteren Befragungen festzustellen, ob jemand über Wissen verfügte, das nur der Täter haben konnte.

Hedda bewegte den Mauszeiger, wechselte zurück zu den Suchergebnissen und wählte den nächsten Treffer aus, der sich mit dem Mord beim Upstalsboom beschäftigte. Der Artikel stammte von der gleichen Zeitung, die auch den vorherigen Bericht verfasst hatte. »Der Satansmord von Aurich – Haben die Teufelsanbeter auch die Eltern der jungen Ostfriesin auf dem Gewissen?«, las sie die Überschrift vor.

 

Aurich/Rahe Nach der grausamen Vergewaltigung und dem anschließenden Mord an einer jungen Ostfriesin verdichten sich die Hinweise darauf, dass der oder die Täter aus der satanistischen Szene stammen. Wie unsere Zeitung bei Recherchen in der Nachbarschaft des Opfers erfuhr, kamen die Mutter und der Stiefvater der jungen Frau erst wenige Monate zuvor bei einem mysteriösen Autounfall ums Leben. Haben die Teufelsanbeter es etwa auf die ganze Familie abgesehen? Wird es noch weitere Opfer geben? Und warum schweigt die Polizei? Sind ihre Reihen etwa unlängst von den Söhnen und Töchtern Satans infiltriert?

 

»Ich glaube, wir sollten nach einer seriöseren Quelle suchen«, kommentierte Hedda den Bericht kopfschüttelnd.

Erneut scrollte sie durch die Suchergebnisse. Aber keiner der sonstigen Artikel, die sich mit dem gewaltsamen Tod der jungen Frau beschäftigten, bezog sich in irgendeiner Form auf die satanistische Szene. Die Berichte stimmten lediglich darin überein, dass der Mord mit einer Vergewaltigung einherging. Auch das tragische Schicksal, das innerhalb weniger Monate gleich drei Mitglieder einer Familie das Leben verloren hatten, wurde in diversen Medien kommentiert.

Frustriert klappte Hedda den Laptop zu. »Wir werden wohl doch warten müssen, bis Jörg uns in die Details einweiht«, seufzte sie.

Mitleidig schaute Enno seine Freundin an. Er wusste genau, wie ungeduldig sie war. »Aber wir könnten doch trotzdem einfach mal nach Aurich fahren und uns den Tatort ansehen«, schlug er deshalb vor. »Vielleicht bringt uns dein …«, er stockte kurz, sprach dann aber doch direkt aus, was er dachte, »… Gespür ja auf die richtige Fährte.« Im Laufe der Jahre, in denen sie sich jetzt schon kannten, hatte er gelernt, die unerklärliche Fähigkeit, die seine Verlobte im Zusammenhang mit getöteten Menschen zu haben schien, als gegeben zu akzeptieren.

 

***

 

Ein ausgiebiges Frühstück und eine halbstündige Autofahrt später parkte Enno seinen Polo in der Nähe des Upstalsbooms. Bei dem historischen Hügel handelte es sich im Ursprung um einen früh­mittelalterlichen Grabhügel, der etwa drei Kilometer vom heutigen Auricher Stadtkern entfernt lag. Im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert, während der Zeit der ›Friesischen Freiheit‹, war er dann eine Versammlungsstätte, an der sich die Abgesandten der friesi­schen Landesgemeinden trafen, um dort über das Zusammenleben zu beraten und darüber zu sprechen, wie der gemeinsame Bund politisch nach außen vertreten werden sollte. Denn eine fremde Herrschaft gab es bei den Friesen nicht. Im ganzen Römisch-Deutschen Reich gab es keine ländliche Region, die vergleichbare Rechte für den Einzelnen bot.

Der Name Upstalsboom setzt sich dabei aus den plattdeutschen Wörtern ›Boom‹ und ›upstallt‹ zusammen, da an den Versamm­lungsstätten oft ein Baum stand, an dem die friesischen Häuptlinge ihre Pferde aufgestallt hatten. In der Zeit des Nationalsozialismus sollte das Gelände des Upstalsbooms zu einem Thingplatz umge­staltet werden. Diese Freilichttheater hatten allerdings nur eine kurze Blütezeit und viele der geplanten Thingstätten wurden überhaupt nicht errichtet. So blieb auch das Auricher Gelände seit dem Jahr 1879 weitgehend unverändert.

Hedda und Enno durchquerten eine langgezogene, etwa achthun­dert Meter lange Allee. Den breiten Weg säumten dabei nicht nur zahllose Bäume, sondern auch etliche Hinweistafeln, die an die Bedeutung und den historischen Hintergrund der Stätte erinnerten, die sich am Ende des Weges befand.

Während sie die leichte Erhebung hinaufstiegen, die zu der steinernen Pyramide hinaufführte, verspürte Hedda plötzlich ein Schwindelgefühl, das mit jedem Schritt immer stärker zu werden schien. Sicherheitshalber hakte sie sich bei Enno unter. Sie hoffte, dass sie nicht wieder das Bewusstsein verlieren würde. Sie warf einen Blick über die Schulter. Glücklicherweise waren sie ganz allein. Die meisten Menschen verbringen den Tag bei dem nasskalten Nieselwetter wahrscheinlich lieber in ihren eigenen vier Wänden, dachte sie beruhigt und sehnte sich in diesem Augenblick in ihr kuscheliges Bett zurück.

Auf der höchsten Stelle des Hügels befand sich seit dem Jahr 1833 eine Steinpyramide, die rundherum von hochgewachsenen Bäumen umgeben war. Sie schätzten die Höhe des Objektes auf ungefähr vier Meter. Es war ein sehr friedlicher und durch seine abgeschiedene Lage auch sehr stiller Ort. Doch plötzlich ließ ein lautes, schrilles Quieken die beiden Ermittler aufhorchen.

Das Adrenalin, das sich im Bruchteil einer Sekunde durch Heddas Körper pumpte, ließ sie ihren Schwindel und die weichen Knie schlagartig vergessen. »Das kam direkt von der Rückseite der Pyramide!«, sagte sie aufgeregt und beschleunigte ihren Schritt.

Auch Ennos Körper war durch die ungewöhnlichen Laute in Alarmbereitschaft. Was auch immer dort hinter dem steinernen Grabmal verborgen lag, klang so, als würde es gerade um sein Leben schreien. Als dann auch noch eine menschliche Gestalt hinter der Pyramide auftauchte, wurde aus seiner Beunruhigung schnell die Gewissheit, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmte.


 

2. Kapitel

 

Opfergaben

 

Die Gestalt war komplett in Schwarz gekleidet und hatte sich ihre Kapuze tief in das Gesicht gezogen. Als sie die beiden unerwarteten Besucher entdeckte, wurde sie erkennbar hektisch. Sie schien zu irgendjemandem zu sprechen und ging dabei wieder hinter der Steinpyramide in Deckung.

»Was macht ihr da?«, schrie Enno. Das erbärmliche Quieken war zu seiner Beunruhigung schlagartig verstummt und versetzte ihn daher in erhöhte Alarmbereitschaft. Mit einigen Metern Sicherheits­abstand umrundete er das steinerne Grabmal, um einen Blick auf das werfen zu können, was dahinter verborgen lag.

Hinter dem Gedenkstein hockte nicht nur eine, sondern gleich drei der dunklen Gestalten. Auch die anderen beiden waren ganz in Schwarz gekleidet und hatten ihre Kapuzen bis zu den Augenbrauen heruntergezogen. In ihren Händen hielt jeder von ihnen ein blutverschmiertes Messer. Als sie Ennos entsetzten Gesichtsaus­druck bemerkten, ergriffen sie die Flucht und rannten den Hügel hinunter in das dahinterliegende Waldstück.

Ein Reflex, den er noch aus seiner Zeit als Polizist zu haben schien, wollte Enno direkt hinterher spurten lassen. Doch Heddas verängstigter Einwand, der ihn an die Messer der drei dubiosen Gestalten erinnerte, hielt ihn dann doch zurück.

Eine Zeit lang schauten die beiden den Flüchtenden noch hinterher, bis sie schließlich im Labyrinth der Bäume nicht mehr zu sehen waren. Erst dann wandten sie sich der Rückseite der Pyramide zu. Dort fanden sie eine kleine Glasschale, in der sich eine dunkelrote Flüssigkeit befand. Daneben lagen die leblosen Körper von drei ausgebluteten Mäusen.

Der Anblick trieb Hedda die Tränen in die Augen. »Warum haben die das getan?«

Enno hockte sich hin und betrachtete die Situation genauer. »Ich wusste gar nicht, dass Mäuse so laut quieken können.«

Auch Hedda ließ sich in die Hocke sinken. »Wenn sie sich in Lebensgefahr befinden, wird aus ihrem leisen Fiepen ein Schrei, der viel eher an eine Trillerpfeife erinnert. Ich habe das schon ein paar Mal gehört, wenn unsere Nachbarskatze früher mit einem erbeuteten Nagetier im Maul durch unseren Garten spaziert ist.« Dann zog sie ein Taschentuch hervor, wickelte es um einen der leblosen kleinen Körper und hob ihn behutsam auf.

»Was hast du damit vor?«, fragte Enno. Unbewusst verzog er dabei angewidert das Gesicht. Er fragte sich, ob es gesundheitlich bedenk­lich war, die ausgebluteten Nagetiere auf diese Art anzufassen.

»Ich will ihnen eine würdevolle letzte Ruhestätte suchen«, antwortete Hedda und schaute sich um. Da sie keine Schaufel oder irgendein anderes Werkzeug dabeihatte, mit dem man ein Grab hätte ausheben können, musste sie nach einer Alternative Ausschau halten. Am Fuße eines der Bäume entdeckte sie schließlich eine Wurzel, die ein wenig aus dem Erdreich herausragte und dadurch eine Art überirdische Höhle bildete.

Behutsam legte sie die tote Maus hinein und machte sich auf den Rückweg, um auch die anderen Nager abzuholen. Enno kam ihr bereits entgegen. Er hatte seine Bedenken beiseitegeschoben und trug jetzt ebenfalls eines der Tiere zu seiner letzten Ruhestätte. Anschließend verschlossen sie gemeinsam den Eingang mit ein paar Ästen und Blättern, die sie vom Waldboden auflasen.

Hedda warf einen traurigen Blick auf das Grab der Nager. »Ein schönes Mausoleum«, sagte sie. Ihr treffendes Wortspiel hellte ihre betrübte Stimmung leicht auf. Gemeinsam mit Enno kehrte sie wieder zur Pyramide zurück. Auf dem Weg dorthin entdeckten sie, dass mit dem Blut der Mäuse etwas auf die steinige Rückseite gezeichnet worden war.

»Sieht ein wenig so aus wie dieses Abzeichen von Star Trek, das die Besatzung der Enterprise immer an ihren Oberteilen trägt«, war Ennos erster Eindruck.

Hedda kannte die Science-Fiction-Serie nicht besonders gut. »Was haben denn tote Mäuse mit Star Trek zu tun?«

Ratlos zuckte Enno mit den Schultern. Er hatte die Serie als Kind nur sporadisch angeschaut. Er war stets eher ein Fan von Star Wars gewesen.

»Was waren das wohl für Typen?« Nachdenklich ließ Hedda ihren Blick über das Waldstück schweifen, in dem die schwarz gekleideten Gestalten verschwunden waren.

Enno zuckte erneut die Achseln. »Ganz richtig im Kopf waren die auf jeden Fall nicht.« Mit einem leichten Kopfschütteln betrachtete er die Schale mit dem Blut. Dann schaute er sich erneut das gezeich­nete Symbol an. Auf den zweiten Blick erinnerte es ihn plötzlich an etwas ganz anderes. War die Zeichnung eventuell noch gar nicht vollständig? Hatten sie die Tierquäler entdeckt, bevor diese ihr Werk vollenden konnten? Vor seinem geistigen Auge versuchte er, das Gebilde um einige weitere Elemente zu ergänzen.

»Was machst du da?«, fragte Hedda neugierig, während sie ihrem Freund dabei zusah, wie er mit geschlossenen Augen irgendwelche Linien in die Luft malte.

Enno schlug die Augen wieder auf. »Das sollte mit Sicherheit ein Pentagramm werden.« Er nahm sein Smartphone zur Hand und ließ sich auf dem Display einige der Symbole anzeigen. »Siehst du?« Er hielt Hedda das Handy hin und tippte auf den Touchscreen.

»Du hast recht. Das kann doch kein Zufall sein.«

»Das glaube ich auch nicht.«

 

***

 

Zurück in Neermoor setzten sie sich nebeneinander auf das Gäste­bett. Während der Autofahrt hatten sie entschieden, Jörg über die Ereignisse beim Upstalsboom zu informieren. Sie hatten gedanklich schon mit den Ermittlungen begonnen und mussten daher jetzt unbedingt wissen, ob sie sich tatsächlich auch mit dem Mordfall beschäftigten, der ihnen erst in wenigen Tagen offiziell zugeteilt werden sollte.

Der Geheimdienstleiter wurde beim festlichen Familienessen von dem Anruf seiner beiden jungen Ermittler überrascht. Zunächst war er etwas ungehalten darüber, dass die beiden bereits auf eigene Faust recherchiert hatten. Doch schnell sah auch er ein, dass er nicht ganz unschuldig daran war. Immerhin hatte er ihre Neugierde durch seine ungewöhnlichen Buchpräsente erst angeheizt.

Unter einem Vorwand stand er von dem reich gedeckten Tisch auf, verließ das vollbesetzte Restaurant und suchte sich ein ruhiges Plätzchen, an dem er ungestört telefonieren konnte. »So, jetzt kann ich endlich mit euch sprechen«, sagte er, nachdem er in einer Bus­haltestelle Schutz vor dem nasskalten Wind gefunden hatte. »Ihr wart also in Aurich?«

Über die Lautsprecherfunktion von Ennos Diensthandy bejahten beide seine Frage. Dann fasste Hedda kurz zusammen, was sie beim Upstalsboom erlebt hatten.

»Interessant«, murmelte Jörg. »Warum waren die Satanisten wieder am Tatort?«

»Wieder?«, fragte Hedda. »Hat man damals am Tatort Spuren gefunden, die auf sie als Täter hindeuten?«

»Nicht direkt. Auf der Stirn der Toten befand sich aber ein Pentagramm. Es wurde ihr direkt in die Haut gebrannt.«

Dann war der Artikel der ›Auricher Stimme‹ ja doch gar nicht so schlecht, dachte Enno. »Wir haben davon in der Zeitung gelesen, hielten den Artikel aber für unseriös«, informierte er seinen Vorge­setzten.

»Die Polizei hat diese Information damals bewusst vor den Medien geheim gehalten. Man hielt in diesem Fall die Gefahr von Selbst­justiz für zu hoch. Andererseits erhoffte man sich auch einen ermittlungstechnischen Vorteil dadurch, das Täterwissen zurückzu­halten.«

Hedda konnte die Befürchtungen der Kriminalbeamten durchaus nachvollziehen. Fälle von versuchter Selbstjustiz gab es schließlich immer wieder. Und Satanisten hatten in der Bevölkerung sicherlich nicht gerade einen breiten Rückhalt. »Die Strategie ging aber nicht auf?«, fragte sie.

»Leider nicht«, seufzte Jörg. »Die Polizei hat alle damaligen Mitglieder der Vereinigung mehrfach befragt, Alibis überprüft und freiwillige DNA-Proben genommen.«

»DNA-Proben?«, fragte Enno nach.

»In der Vagina des Opfers wurden Spermaspuren gefunden. Anhand der Hämatome an den Oberschenkeln und ihren Ver­letzungen im Intimbereich gehen wir davon aus, dass der Täter sie zunächst brutal vergewaltigt und anschließend getötet hat.«

»Könnten es nicht auch mehrere Täter gewesen sein?«, fragte Hedda und dachte dabei an die drei flüchtigen Mäusemörder.

»Die Kriminalexperten gehen von einem Einzeltäter aus. Auf jeden Fall stammte das gefundene Sperma nur von einem einzigen Mann.«

»Und der Abgleich mit den freiwilligen Proben der Satanisten ergab keinen Treffer?«, fragte Enno.

Wieder verneinte Jörg die Frage. »Die Mitglieder der SVO haben sich damals sehr kooperativ verhalten. Jeder Einzelne von ihnen hat entweder ein hieb- und stichfestes Alibi präsentiert oder sich durch einen negativen DNA-Abgleich entlastet.«

»Dann wollte der eigentliche Täter durch das Brandzeichen nur von sich ablenken«, mutmaßte Hedda.

»Das wäre möglich«, stimmte der Geheimdienstleiter ihr zu. »Oder aber die Satanisten haben alles so explizit geplant, dass wir ihnen bisher nicht auf die Schliche kommen konnten.«

»Warum sollten sie das getan haben?«, warf Enno ein, bemerkte aber sofort, wie blöd die Frage klang.

»Nun ja, die Mitgliederzahlen der SVO sind nach der Tat quasi explodiert«, antwortete Jörg. »Zumindest wenn man den Zuwachs in Relation zu den vorherigen Zahlen nimmt.«

»Du meinst, die haben den Mord begangen, um populärer zu werden?« Ungläubig schüttelte Hedda den Kopf. Dann fiel ihr aber etwas ein, was der Theorie widersprach. »Aber in den seriösen Medien wurde die Gruppe doch niemals als tatverdächtig erwähnt, oder etwa doch?«

»Nein, aber das konnten sie ja vorher nicht wissen«, entgegnete Jörg. »Abgesehen davon hat das kleine Schundblatt, aus dem auch ihr eure Informationen habt, eine nicht zu unterschätzende Reichweite. Der Geschäftsführer der Zeitung versteht sich darin, Informationen über die sozialen Medien an sehr große Zielgruppen zu verbreiten.«

»Woher wusste er denn eigentlich davon?«, fragte Enno.

»Das wissen wir leider auch nicht. Der Polizei gegenüber hat er behauptet, die Information auf einem Zettel in seinem Briefkasten gefunden zu haben.«

»Wer’s glaubt, wird selig.« Hedda lachte höhnisch auf.

»Und wer es nicht glaubt, kommt zu Satan in die Hölle«, ergänzte Enno schmunzelnd.

»Was kannst du uns über den Zusammenhang zwischen dem Mord beim Upstalsboom und dem Unfalltod der Eltern sagen?«, fragte Hedda und dachte dabei an den zweiten Zeitungsartikel. Enthielt auch dieser etwa mehr Wahrheit, als sie zunächst angenommen hatten?

Jörg wusste sofort, worauf sein jüngstes Teammitglied anspielte. »Hilke Hinrichs, die Mutter der beim Upstalsboom ermordeten Lieske Hinrichs, starb einige Monate vorher bei einem tragischen Autounfall. Sie saß neben ihrem zweiten Ehemann im Auto, als ein betrunkener Geisterfahrer sie mit seinem Fahrzeug frontal gerammt hat. Der Unfallverursacher war auf der Stelle tot. Die Eheleute verstarben später im Krankenhaus.«

»Wie schrecklich.« Erschrocken schlug Enno sich die Hand vor den Mund.

»Ja, wirklich furchtbar«, stimmte Hedda ihrem Verlobten zu, kam aber sofort wieder zum Thema. »Das bedeutet, dass der Artikel der ›Auricher Stimme‹, in dem auf eine Verbindung der Todesfälle spekuliert wurde, an den Haaren herbeigezogen ist. Oder hatte dieser ominöse Verleger da etwa auch einen geheimen Zettel im Brief­kasten?«

»Die Kollegen von der Kripo haben ihn selbstverständlich auch dazu befragt. Der Verleger hat damals wirklich mit der Nachbar­schaft gesprochen, gab aber auch zu, hier einfach nur gemutmaßt zu haben. Ganz abgesehen davon sprechen der Unfallhergang sowie die Tatsache, dass es sich bei dem männlichen Toten nicht um Lieskes Vater, sondern lediglich um ihren Stiefvater gehandelt hat, dafür, dass es sich hier wirklich nur um Sensationsjournalismus gehandelt hat.«

 

Im Anschluss unterhielten sich die drei noch lange über die bisherigen Ermittlungsbemühungen der Polizei und diskutierten über eine Strategie, mit der ihre Geheimeinheit zur Lösung des Falls beitragen könnte. Als Jörg ihnen jedoch abschließend verkündete, wie er die Sache angehen wollte, mussten Hedda und Enno zunächst einmal schwer schlucken.