1. Kapitel
Heimat


Hedda und Enno saßen im Auto und waren unterwegs nach Neermoor. Sie hatten gerade Wiesmoor durchquert und passierten jetzt die Stelle der Hauptstraße, an der sich vor einigen Jahren ein großes Bestattungsinstitut niedergelassen hatte.
Beim Anblick des modernen Klinkerbaus musste der ehemalige Polizist an seinen Vater Bento denken, der in Neermoor ebenfalls ein Bestattungsinstitut führte. Er hatte ihn gefragt, ob er für eine Zeit lang wieder bei ihm wohnen könnte, und als Begründung dafür angegeben, dass er in Leer eine mehrwöchige Fortbildung für seinen Streetworker-Job absolvieren müsse. Die Vorstellung, wieder in sein altes Kinderzimmer einzuziehen, war an sich schon seltsam genug, der Gedanke daran, wieder getrennt von Hedda zu wohnen, machte die Sache für ihn aber noch viel merkwürdiger.
Auch Hedda konnte sich noch nicht richtig vorstellen, wie es wohl sein würde, wieder bei ihrem Onkel und seiner zukünftigen Frau Doris zu wohnen. Seit Willms Heiratsantrag war bereits einige Zeit vergangen und die Verlobten steckten mittlerweile mitten in den Hochzeitsvorbereitungen. Die junge Ermittlerin hatte den beiden gegenüber behauptet, sie würde zur Recherche für ein zukünftiges Buchprojekt wieder zur Schule gehen, um sich noch einmal besser in die Sorgen und Nöte der angehenden Abiturienten einfühlen zu können.
Sowohl Bento als auch Willm hatten sich zunächst große Sorgen gemacht, als sie die unerwarteten Übernachtungsanfragen bekamen. Beide hatten das ungute Gefühl, dass es in der Beziehung des jungen Paares kriseln könnte. Aber als Hedda und Enno ihnen glaubhaft erklärt hatten, dass die nächtliche Trennung ein wichtiger Bestandteil von Heddas kleiner Zeitreise in ihre Schulzeit wäre, und zudem auch noch beteuerten, dass bei den beiden ansonsten alles in Ordnung sei und Enno mit Sicherheit auch ab und an bei Willm übernachten würde, waren sie beruhigt.
Die jungen Geheimdienstmitarbeiter hatten lange darüber nachge-dacht, wo sie während der Zeit ihrer Ermittlungen wohnen sollten. Auch eine gemeinsame Wohnung oder ein Hotel waren kurzzeitig eine Option gewesen. Aber das Risiko, zufällig von einem Familienmitglied entdeckt zu werden, war ihnen einfach zu groß. Mit
Sicherheit wären Willm und Bento maßlos enttäuscht gewesen, wenn die beiden sich in ihrer unmittelbaren Nähe aufgehalten und weder etwas davon gesagt, geschweige denn sich bei ihnen einquartiert hätten.
»Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, so lange von dir getrennt zu wohnen«, sagte Hedda. Sie strich sich mit der Hand durch ihre Haare. Seitdem sie vor einigen Monaten entschieden hatte, von ihrer schwarz gefärbten Kurzhaarfrisur zurück zu ihren langen, natur-blonden Haaren zu wechseln, fühlte sich das irgendwie merkwürdig und fremd an.
Enno riskierte einen kurzen Seitenblick, konzentrierte sich dann aber wieder auf die Straße. »Ich auch nicht«, seufzte er. »Aber wir hatten doch darüber gesprochen, dass es so wahrscheinlich die beste Lösung ist.«
»Ich weiß. Wenn wir so nah unserer alten Heimat als Paar auftreten, ist die Gefahr, enttarnt zu werden, einfach viel größer.« Traurig ließ Hedda den Kopf sinken. »Aber jetzt, wo unsere Trennung fast bevorsteht, mag ich überhaupt nicht daran denken.«
Behutsam legte Enno eine Hand auf den Oberschenkel seiner attraktiven Beifahrerin. »Wir schaffen das.« Er nickte ihr aufmunternd zu. »Und wenn ich dann gelegentlich heimlich bei dir übernachte, fühlt sich das vielleicht auch ein wenig aufregend und verboten an.«
»Du bist ein unverbesserlicher Optimist.« Hedda lächelte ihren Freund an. Sie liebte es, dass er jeder noch so negativen Situation doch noch etwas Positives abgewinnen konnte.


***


»Hedda!« Willms Begrüßung fiel gewohnt laut und herzlich aus. Der eins neunundachtzig große Hüne schlang die Arme um seine Nichte und drückte sie, so fest er konnte, an seinen stattlichen Bauch. »Ich freue mich so, dass du wieder da bist.«
Direkt neben ihnen ertönte ein Räuspern.
Ihr Onkel lockerte die Umarmung, schaute seine Verlobte an und korrigierte sich. »Entschuldige bitte. Ich meinte natürlich, ›wir‹ freuen uns sehr darüber, dass du eine Zeit lang bei uns wohnen möchtest.«
Doris lächelte zufrieden. »Moin Hedda.« Auch sie drückte ihre zukünftige Nichte zur Begrüßung fest an sich.
Willm hatte sich inzwischen an Enno gewandt. Er legte ihm eine Hand auf die Schulter, nickte ihm freundlich zu und schüttelte gleichzeitig leicht mit dem Kopf. »Du bist in meinem Haus selbstverständlich jederzeit willkommen, aber solange Hedda bei mir wohnt, habe ich die Aufsichtspflicht für die junge Dame.« Er musste eine Pause machen, um das in ihm aufsteigende Lachen zu unterdrücken. »Du weißt ja, Sex mit Minderjährigen ist verboten.«
»Willm!«, protestierten Doris und Hedda im Chor, während Enno die Röte ins Gesicht schoss.
»War doch nur Spaß«, lachte der wuchtige Ostfriese laut auf. »Ich will doch nur dazu beitragen, dass Hedda sich auch wirklich wie eine noch nicht ganz volljährige Schülerin fühlt.« Dann klopfte er Enno aufmunternd auf die Schulter. »Komm, wir bringen das Gepäck nach oben!« Er nahm einen der beiden Koffer und ließ das zweite Gepäckstück für den ehemaligen Polizisten übrig.
»Und wir zwei Hübschen gehen in die Küche und bereiten den Tee vor«, lachte Doris, schlang ihren Arm um Heddas Hüfte und zog sie mit sich ins Haus.
Nur wenige Minuten später saßen alle vier zusammen am Küchentisch und jeder von ihnen hatte eine dampfende Tasse Tee vor sich stehen.
»Wie laufen eure Hochzeitsvorbereitungen?«, fragte Hedda.
»Du weißt ja, wir planen lediglich eine kleine Feier. Nur die Familie und ein paar enge Freunde. Schließlich ist es für uns beide ja nicht die erste Hochzeit.« Willm stockte kurz. Durch die Planungen für die anstehende Trauung musste er auch immer öfter an seine Ex-Frau Sarinya denken.
Doris wusste sofort, welche düsteren Erinnerungen ihren zukünftigen Ehemann bedrückten. Sie lehnte sich zu ihm hinüber, spitzte die Lippen und gab ihm einen dicken Kuss auf die Wange. »Ich würde dich auch ganz ohne Feier heiraten.«
Sofort erstrahlte auf Willms Gesicht wieder die gewohnte Lebensfreude. Seine Doris wusste halt, welche Knöpfe sie bei ihm drücken musste. »Und du willst ernsthaft wieder zur Schule gehen?«, wechselte er das Thema.
Hedda setzte ihren Tee wieder auf der Untertasse ab. »Zum Glück muss ich ja nicht nochmal die Abiturprüfungen bestehen«, scherzte sie.
»Aber dass du so einen Aufwand betreibst, nur um für einen neuen Roman zu recherchieren, finde ich schon bemerkenswert. Machen sich denn alle Autoren so viel Mühe, nur um ihre Geschichten besonders glaubwürdig rüberbringen zu können?«, fragte Doris.
»Hedda ist halt nicht irgendeine Autorin.« Enno nahm sich Doris zum Vorbild und drückte seiner Freundin ebenfalls einen Schmatzer auf die Wange.
»Nun ja …«, sagte die junge Schriftstellerin. »… ehrlich gesagt kenne ich gar nicht so viele andere Autoren. Daher kann ich dir diese Frage auch nicht wirklich beantworten. Mir ist es halt besonders wichtig, dass meine Charaktere total realistisch bei den Lesern ankommen.«
»Wie gesagt, das finde ich ja auch total bemerkenswert«, betonte Doris erneut die Intention ihrer Aussage. »Ich wundere mich in deinem Fall nur besonders, weil du ja gerade erst mit der Schule fertig bist. Du müsstest die Abläufe doch eigentlich auch so noch ganz gut kennen. Ich meine, wenn du jetzt in unserem Alter wärest …« Sie schaute kurz zu Willm hinüber. »… dann ginge es sicherlich nicht ohne diesen Aufwand, aber bei dir …« Sie beendete den Satz nicht, da ohnehin allen klar war, was sie damit meinte.
Nervös suchten Heddas Augen Hilfe bei Enno. Mit so viel bohrenden Nachfragen hatte sie überhaupt nicht gerechnet.
»Am Ende war es die Entscheidung ihres Verlages.« Der Streetworker zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Und solange die zahlen, stellt Hedda natürlich auch keine unnötigen Nachfragen.«
»Die zahlen dir während der Recherche eine Art Gehalt?«, fragte Willm verblüfft.
Hedda schaute zunächst Enno und dann ihren Onkel an. »Jein«, sagte sie schließlich. »Das ist mehr so eine Art Vorschuss für den kommenden Roman«, log sie.
»Die müssen ja echt sehr überzeugt von dir sein, wenn sie dir so viel Vertrauen entgegenbringen. Lief dein erster Roman denn so erfolgreich?«, hakte Doris nach.
»Nun ja …«, begann Hedda erneut zu stottern. Ihr Erstlingswerk lief zwar nicht schlecht, aber ohne die gefakten Käufe und die Honorare für nie stattgefundene Lesungen, die seitens der Geheimeinheit initiiert wurden, hätte sie von ihren Einnahmen niemals alleine ihren Lebensunterhalt bestreiten können.
»Die haben halt einen guten Riecher für zukünftige Stars«, kam Enno ihr erneut zu Hilfe. Dann versuchte er schnell das Gespräch wieder in eine andere Richtung zu lenken. »Wie läuft es im Imbiss?«
»Ganz gut«, antwortete Doris. Dann schaute sie erschrocken auf ihre Armbanduhr. »Ach herrje, meine Schicht fängt ja gleich an.« Wie von der Tarantel gestochen sprang sie von ihrem Stuhl auf, verabschiedete sich hastig von allen Anwesenden und verließ daraufhin fluchtartig die Küche.
»Ich glaube, ich mache mich dann auch mal auf den Weg. Mein Vater wartet bestimmt schon auf mich.« Enno stützte sich mit beiden Händen auf seinen Oberschenkeln ab und hievte sich so ebenfalls von seinem Stuhl empor. »Außerdem beginnt mein Seminar morgen schon sehr früh.« Er klopfte Willm zur Verabschiedung auf die Schulter, gab seiner Freundin einen Abschiedskuss und machte sich auf den Weg.
»Genauso wie früher«, schnaufte Willm, als er nur noch mit Hedda alleine am Tisch saß.
Seine Nichte lächelte ihn glücklich an. »Ich freue mich auch, wieder hier zu sein.«
»Dein Zimmer ist so weit fertig. Du müsstest nur noch die Sommerbettdecke aus dem Keller holen. Das habe ich bei der ganzen Aufregung glatt vergessen.« Ein kurzer Blick in das schlagartig erblasste Gesicht seiner Nichte genügte und Willm wusste sofort, welchen Fehler er gemacht hatte. »Tut mir leid«, stammelte er. »Selbstverständlich hole ich das Bettzeug aus dem Keller. Bitte verzeih mir!«
»Schon gut.« Hedda versuchte zu lächeln, aber ihre Kraft reichte allenfalls für ein müdes Zucken ihrer Mundwinkel. Die schrecklichen Erinnerungen, die sie mit diesem Keller verband, würde sie wohl ihr Leben lang nicht vergessen können.

 


2. Kapitel
Der erste Schultag


Hedda war so aufgeregt, dass sie am Morgen nicht einmal etwas essen konnte. Dabei hatte ihr Onkel zur Feier des Tages extra Croissants gekauft. Die junge Ermittlerin hatte jedoch lediglich eine Tasse Tee getrunken. Allein bei dem Gedanken an feste Nahrung drehte sich ihr der Magen um. Sie fühlte sich ein wenig wie damals, als sie mit ihren Eltern nach Bremen ziehen und dort eine neue Schule besuchen musste.
Zwei Stunden später stand sie vor einem historisch anmutenden Gebäude, das ein wenig wie eine überdimensionierte Stadtvilla aussah. Die kleine Privatschule war erst 1972 eröffnet worden und machte seitdem den beiden staatlichen Gymnasien die Schüler streitig. Insbesondere die Kinder gut verdienender Eltern wurden auf diese Schule geschickt, die mit einer besonders hohen Qualifikation ihres Lehrkörpers, kleinen Klassenverbänden sowie technisch neuestem Equipment warb. Das Schulgeld, das unabhängig vom Einkommen der Eltern dreihundertfünfzig Euro pro Monat betrug, konnte oder wollte sich nämlich nicht jeder leisten.
Die Eltern von Leonie und Luca schien der hohe finanzielle Aufwand jedenfalls nicht zu stören. Beide Kinder besuchten aktuell die zwölfte Jahrgangsstufe des privaten Gymnasiums. Leonie war die Tochter von Martin Reitmeyer, Luca der Sohn von Bettina Albers. Die beiden Elternteile waren die eigentlichen Zielpersonen der jungen Ermittlerin, denn beide waren bis zum Ende auf der Party gewesen, auf der vor einigen Monaten die Leiche von André Krayenborg gefunden worden war.
Dem Mordopfer wurde mit einem handelsüblichen Küchenmesser die Kehle durchtrennt, während es vermutlich am Pissoir gestanden hatte, um seine Blase zu entleeren. Er hatte an diesem Abend gemeinsam mit ehemaligen Mitschülern im Pausenraum der Privatschule das fünfundzwanzig Jahre zurückliegende Abitur gefeiert. Gegen 01:20 Uhr wurde er dort zum letzten Mal lebend gesehen. Nur etwa zehn bis fünfzehn Minuten später wurde er dann von Martin Reitmeyer auf der Herrentoilette tot aufgefunden.
Die Polizei ging bis heute davon aus, dass einer der fünf Mitabiturienten, die bis zuletzt noch mit ihm auf der Party gewesen waren, auch Andrés Mörder sein musste. Denn von allen wurden am Tatort Spuren gefunden. Die tatverdächtigen Männer begründeten ihre genetischen Abdrücke mit ihrem hohen Alkoholkonsum und den daraus resultierenden Toilettengängen. Die beiden Frauen, die nicht nur wegen ihrer DNA auf der Herrentoilette in Verdacht geraten waren, gaben an, aus purer alkoholgetriebener Neugierde einen Blick in das Herren-WC riskiert zu haben. An der Tatwaffe waren jedoch von allen Verdächtigen keine Spuren zu finden. Außerdem hatten alle, außer Martin Reitmeyer, jeweils einen Alibi-Geber. Deshalb und aus Mangel an Beweisen konnte keinem vom ihnen die Tat nachgewiesen werden.
Dass sich ein unbekannter Täter unbemerkt Zutritt zum Schul-gebäude verschafft haben könnte, schlossen die ermittelnden Beamten seinerzeit aus. Der Haupteingang wurde videoüberwacht. Die mehrfache Überprüfung der Bänder bestätigte die Zeugen-aussagen, wonach sich neben dem Opfer zur Tatzeit nur noch fünf weitere Personen im Schulgebäude aufgehalten hatten. Die alte Stadtvilla, die wie ein Quadrat aufgebaut war und den Schülern im Kern einen unüberdachten Pausenhof bot, lag eingebettet zwischen zwei weiteren Gebäuden. Ein externer Zugang war also nur von der Vorder- oder der Rückseite des Gebäudes möglich. Einbruchspuren konnten hier jedoch nicht festgestellt werden.
Nun lag es also an Hedda und Enno, auf gewohnt unkonventio-nellen Wegen nach Hinweisen und Beweisen zu suchen. Denn wie immer wurde die Geheimeinheit nur dann gerufen, wenn ein Fall besonders brisant oder aber durch die Beamten der Polizei nicht zu lösen war. Jörg, der Leiter der inoffiziellen Einsatztruppe, hatte den Plan, dass Hedda sich mit den Kindern von Martin Reitmeyer und Bettina Albers anfreunden sollte, um so vielleicht etwas zu erfahren, was der Polizei bisher verborgen geblieben war. Vielleicht hatten die Sprösslinge Veränderungen bei ihren Eltern bemerkt oder trugen schon seit Wochen ein dunkles Geheimnis mit sich herum, das sie irgendwann doch mit einer guten Freundin teilen würden.
Reiß dich zusammen. Du bist doch keine vierzehn mehr, rief Hedda sich selbst zur Besinnung. Die Bauchschmerzen gingen davon aber trotzdem nicht weg. Sie schloss die Augen, zählte langsam bis drei und ging dann mit entschlossenen Schritten auf den großen Haupteingang zu. Das Büro des Rektors lag im ersten Stock. Sie sollte sich zunächst bei ihm melden, damit er sie dann in ihre neue Klasse bringen konnte. Jörg hatte ihr gefälschte Zeugnisse und Ausweisdokumente besorgt, um sie an der Privatschule anmelden zu können. Zusammen mit ihrer veränderten Frisur ging Hedda nicht davon aus, dass irgendjemand sie so leicht erkennen würde.
Nach ein paar einführenden Worten geleitete der Schulleiter Hedda endlich in ihre neue Klasse. Die Unterrichtsstunde hatte bereits begonnen. »Aktuell unterrichtet Frau Boomgarden gerade Biologie«, sagte er, klopfte an die Tür und öffnete diese.
Beim Anblick des Rektors verstummte die Klasse. Alle Blicke waren auf den autoritär wirkenden Mann gerichtet. Doch nur wenige Sekunden später hatte die junge Ermittlerin das Gefühl, das sämtliche Aufmerksamkeit nur noch ihr galt.
Frau Boomgarden war eine attraktive Frau mittleren Alters. Ihre langen dunkelblonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Der knielange schwarze Rock und die weiße Bluse betonten ihre gute Figur, ließen sie dabei aber trotzdem seriös aussehen. Ihr freundliches Lächeln in Kombination mit den feinen Fältchen neben den Augen ließ erahnen, dass sie zudem eine sehr sympathische Lehrerin war.
»Das ist Hedda, unsere neue Schülerin«, stellte der Schulleiter die junge Ermittlerin vor.
»Moin Hedda, willkommen in unserer Schule.« Frau Boomgarden nickte ihr lächelnd zu. »Möchtest du der Klasse vielleicht selbst ein paar Worte über dich erzählen?« Sie machte eine präsentierende Handbewegung in Richtung der gespannt wartenden Schüler und trat gleichzeitig einen Schritt zurück.
Hedda musste schlucken, räusperte sich kurz und ließ den Blick einmal quer durch den Klassenraum schweifen. Einige Jungs hatten vorsichtig zu tuscheln begonnen, während einige Mädchen stumme, aber vielsagende Blicke miteinander austauschten. »Ich heiße Hedda, bin siebzehn Jahre alt und komme aus Bremen. Meine Eltern sind ausgewandert, aber ich wollte nicht mit. Darum wohne ich jetzt bei meinem Onkel in Neermoor, damit ich hier in Deutschland mein Abitur zu Ende machen kann«, stellte sie sich und ihre ausgedachte Vita kurz vor.
»Ich denke, jeder von euch wird ihr dabei helfen, sich schnell in unserer Schule wohlzufühlen, habe ich recht?« Die Frage des Direktors war vielmehr als eine Art Drohung zu verstehen. Er schien wirklich ein strenges Regiment an seinem Gymnasium zu führen.
Nachdem alle Schüler auf seine Worte mit zustimmenden Gesten reagiert hatten, verließ er das Klassenzimmer wieder.
»Du kannst da vorne Platz nehmen.« Frau Boomgarden zeigte auf einen freien Stuhl in der hinteren Ecke des Klassenzimmers.
Hedda nahm ihren Rucksack und schlurfte betont lässig zu ihrem neuen Platz hinüber. Sie setzte sich auf den ergonomisch geformten Stuhl. Bereits dem Mobiliar war anzusehen, dass es sich hier nicht um eine normale staatliche Schule handelte. Jeder Tisch hatte eine abschließbare Schublade, in der unter anderem die von der Schule zur Verfügung gestellten iPads untergebracht werden konnten. Ihren Schlüssel hatte Hedda im Vorgespräch vom Schulleiter bekommen. Hinter Frau Boomgarden hing ein riesiges interaktives Whiteboard an der Wand, auf dem gerade ein vor sich hin pumpendes Herz zu sehen war.
»Ich bin Leonie«, flüsterte ihre Sitznachbarin ihr zu und reichte ihr unter der Tischplatte die Hand. Sie hatte dunkle, schulterlange Haare und trug eine Brille. Sie war nicht dick, schien aber definitiv nicht zu den sportlichsten Mädchen der Klasse zu gehören.
»Freut mich.« Die junge Ermittlerin nahm die dargebotene Hand und lächelte ihre Mitschülerin freundlich an. Da sie im Vorfeld bereits einige Informationen von Jörg bekommen hatte, wusste sie selbstverständlich ganz genau, wer da neben ihr saß. Die Kontaktaufnahme zu Martin Reitmeyers Tochter dürfte also kein Problem werden, dachte sie erleichtert.
Auf der Suche nach Luca, dem Sohn von Bettina Albers, ließ sie ihren Blick über die benachbarten Sitzplätze schweifen. Sie entdeckte ihn auf der direkt gegenüberliegenden Seite des Raumes. Er war ein großgewachsener junger Mann, zu dem Hedda sofort das Attribut ›attraktiv‹ in den Sinn kam. Seine Haare waren mit Gel in Form gebracht, die oberen Knöpfe seines stylischen Hemdes waren geöffnet. Betont lässig hatte er sich über den Tisch gebeugt und stützte dabei seinen Kopf mit der Hand ab.
Der wird eine härtere Nuss, dachte sie, nachdem sie als Reaktion auf ihren unbeabsichtigten Augenkontakt nur ein müdes Lächeln von Luca zurückbekommen hatte. Er scheint der obercoole attraktive Typ zu sein, der zu allem Überfluss auch noch über seine anziehende Wirkung genau Bescheid weiß.