1. Kapitel

 

 

 

Mittwoch, 12. Juli 2017

 

 

 

Orientierungslos

 

 

 

Hedda schaute zunächst auf ihre Armbanduhr und anschließend auf den Zugfahrplan, den sie sich zu Hause sicherheitshalber ausgedruckt hatte. Gemeinsam mit ihren Eltern hatte sie schon oft ihren Onkel Willm in Neermoor besucht, aber noch nie war sie alleine mit dem Zug zu ihm gefahren.

 

Es ist schon 15:54 Uhr. In wenigen Minuten soll der Zug bereits in Augustfehn halten, und danach kommt ja dann schon der Leeraner Bahnhof, überlegte sie.

 

Da der Bahnhof in Neermoor schon 1979 stillgelegt worden war, musste sie bereits im etwa zehn Kilometer entfernten Leer aussteigen. Glücklicherweise hatte ihr Onkel Zeit, um sie vom Bahnhof abzuholen. Ansonsten hätte sie auf den nächsten Bus warten müssen. Seit sie mit ihren Eltern nach Bremen ziehen musste, sehnte sich Hedda nach ihrer alten ostfriesischen Heimat. Sie war einfach kein Großstadtmensch. Ihr fehlten das Meer, das platte Land und die vielen Kühe auf den Weiden. Aber den öffentlichen Nahverkehr, bei dem man gerne auch mal mehrere Stunden auf den nächsten Bus warten musste, hatte sie überhaupt nicht vermisst.

 

Ostfriesland, das war genau der Tapetenwechsel, den sie jetzt brauchte. Auf jeden Fall würden ihr hier Jan und Vanessa nicht ständig über den Weg laufen. Dass ihr Exfreund sie kurz vor ihrer Abiturprüfung betrügen musste, war ohnehin schon echt mies von ihm gewesen. Aber dass er es ausgerechnet mit ihrer allerbesten Freundin treiben musste, hatte ihr dann doch vollkommen den Boden unter den Füßen weggerissen. Wie sollte sie nur jemals wieder irgendeinem Typen vertrauen können?

 

Trotz des Trennungsschmerzes hatte sie die Abiturprüfungen bestanden. Die Ergebnisse waren zwar nicht so gut ausgefallen, wie sie es sich erhofft hatte, aber unter den gegebenen Umständen war sie heilfroh, dass sie die Schule nun endlich hinter sich lassen konnte. Für ihren weiteren beruflichen Werdegang war ihr Abschlusszeugnis auf jeden Fall gut genug. Hier war eher die Auswahl des Berufes ihr Problem. Denn während andere junge Frauen in ihrem Alter Lehrerin, Erzieherin oder Ärztin werden wollten, waren Heddas Berufswünsche doch eher ungewöhnlich.

 

So weit sie sich zurückerinnern konnte, hatte der Tod schon immer eine magische Anziehungskraft auf sie gehabt. Bereits im Kindesalter hatte sie gerne Grabsteine gemalt oder aus Eisstielen gleich einen ganzen Friedhof gebastelt. Im Konfirmationsunterricht hatte sie gleich mehrere Referate über das Leben nach dem Tod gehalten und in ihrer Freizeit Bücher über spirituelle Erfahrungen und Geisteswissenschaften gelesen. Niemand in ihrer Familie wusste, woher das lebensfrohe Kind dieses ungewöhnliche Interesse hatte.

 

Da sie aber ansonsten ein vollkommen normales Mädchen gewesen war, das sich mit Freundinnen getroffen, mit Puppen gespielt und in der Pubertät Interesse an Jungs entwickelt hatte, hatte man sie irgendwann einfach gewähren lassen. Sie hatten wohl gehofft, dass sich das Ganze von alleine wieder legen würde. Doch da hatten sie sich alle getäuscht.

 

So hatte sich auch niemand gewundert, als sie etwa ein Jahr vor ihrem Schulabschluss ihre beruflichen Zukunftspläne verkündet hatte. Schon damals hatte sie gewusst, dass sie unbedingt etwas machen wollte, was irgendwie mit dem Tod zu tun hatte. Sie wollte entweder in einem Bestattungsinstitut arbeiten oder Altenpflegerin werden. Aber auch ein Forensik-Studium oder eine Karriere als Krimi-Autorin reizten sie.

 

Ursprünglich hatte sie eigentlich vorgehabt, vor dem Start ins Berufsleben mit Jan für ein halbes Jahr nach Australien zu gehen, um dort Land und Leute kennenzulernen. Aber nachdem sie die wochenlange Affäre zwischen ihrem damaligen Freund und Vanessa zufällig herausgefunden hatte, war dieser Plan natürlich gestorben. Seitdem hatte sie eigentlich nur noch zu Hause herumgesessen und war unglücklich gewesen. Sie hatte sich damals gefühlt, als sei ihr sorgfältig ausgearbeiteter Lebensplan einfach zerrissen worden.

 

Zum Glück war ihr Onkel Willm eines Tages auf die aberwitzige Idee gekommen, dass sie doch, anstatt um die halbe Welt zu reisen, auch ein paar Monate bei ihm in Neermoor verbringen könnte. Anfangs hatte Hedda das für einen seiner blöden Scherze gehalten, aber ihr Onkel hatte seinen Vorschlag nur wenige Tage später noch weiter konkretisiert. Er hatte sich darum gekümmert, dass sie für sechs Monate in einem der dort ansässigen Pflegeheime arbeiten konnte. Und damit war es noch nicht genug. Im Anschluss an die freiwillige soziale Tätigkeit hatte er ihr auch noch einen Praktikumsplatz bei einem Bestattungsinstitut besorgt.

 

Letztlich war es eine spontane Bauchentscheidung gewesen, bei der die Tatsache, Jan und Vanessa für mehrere Monate nicht sehen zu müssen, wohl den endgültigen Ausschlag dafür gegeben hatte, dass sie jetzt in diesem Zug saß. Sie klappte den Laptop zu, den sie die ganze Zeit über auf ihrem Schoß liegen gehabt hatte, und steckte ihn zurück in ihren Rucksack. Sie hatte während der letzten 20 Minuten nicht einen brauchbaren Gedanken niedergeschrieben. Wenn das so weiterging, würde es nie etwas werden mit ihrem ersten Kriminalroman.

 

Mit der Kamerafunktion ihres Smartphones überprüfte sie ihr Make-up. An ihrer Oberlippe hatten sich vor ein paar Tagen wieder einmal hässliche Herpes-Bläschen gebildet, die sie irgendwie zu verstecken versuchte. Ein lebenslanges Andenken an ihren Exfreund. Da niemand in ihrer Familie unter dieser Krankheit litt, war Hedda sich sicher, dass Jan sie mit dieser lästigen Viruserkrankung infiziert haben musste. Da die Symptome unter anderem bei Krankheit und Stress immer wieder auftreten konnten, würde sie dadurch wohl ihr Leben lang immer wieder an ihren untreuen Ex erinnert werden. Eine Vorstellung, die sie gerade jetzt sehr wütend machte.

 

Ansonsten war sie mit ihrem Äußeren eigentlich sehr zufrieden. Besonders mochte sie ihre neue Frisur. Nach der Trennung von Jan hatte sie sich endlich den Haarschnitt gegönnt, den sie schon immer einmal hatte ausprobieren wollen. Ihr glattes naturblondes Haar, das ihr vorher bis auf den Rücken gereicht hatte, war einer modischen pechschwarzen Kurzhaarfrisur gewichen. Ihre Stirn war nahezu vollständig unter ihrem langen Pony versteckt. Hedda fand, dass ihr neuer Look einfach perfekt zu ihrem zierlichen Gesicht passte. Außerdem hatte sie durch die Veränderung endlich den Mädchenlook abgelegt, den sie getragen hatte, seit sie 14 Jahre alt gewesen war. Jetzt hingegen fühlte sie sich endlich wie eine richtige Frau.

 

Zwischenzeitlich hatte der Zug Augustfehn bereits weit hinter sich gelassen und eine mechanische Stimme verkündete die Einfahrt in den nächsten Bahnhof. Hedda stand auf, schulterte ihren Rucksack und zog ihren Trolley durch den Mittelgang zum nächsten Ausstieg. Während sie darauf wartete, dass der Zug endlich zum Stehen kam, betrachtete sie die vorbeiziehende Landschaft. Sie sah viele Wiesen und Felder, einige Kühe und Pferde, aber nur wenige Häuser und kaum einen Menschen.

 

Endlich zu Hause! Ihr entfuhr ein zufriedenes Seufzen.

 

Nachdem der Zug zum Stillstand gekommen war, öffnete sie per Knopfdruck die Türen des Waggons, die sofort automatisch zu beiden Seiten aufschwangen. Sie trat auf den Bahnsteig hinaus und schaute sich suchend um. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sie ihren Onkel hinter einer Armee aus bunten Luftballons entdeckte. Er schien ebenfalls nach ihr Ausschau zu halten, hatte sie aber noch nicht entdeckt.

 

Typisch Onkel Willm! Sie schüttelte breit grinsend den Kopf. Auf so einen Quatsch kann auch nur er kommen!

 

Als auch ihr Onkel sie endlich entdeckt und die beiden einen Blickkontakt hergestellt hatten, ließ Hedda ihren Trolley stehen und rannte die verbliebenen Meter auf ihn zu. Sie fiel ihm so schwungvoll in die Arme, dass ihm einige der Ballons entglitten und sich auf ihren Weg zu den Wolken machten.

 

»Na, das nenne ich aber mal eine Begrüßung.« Ihr Onkel lachte herzlich auf und drückte seine Nichte an sich.

 

Nach einigen Sekunden löste sich Hedda aus der Umklammerung, baute sich vor ihrem Onkel auf und musterte ihn prüfend von oben bis unten. »Kann es sein, dass du noch ein wenig dicker geworden bist?«, fragte sie ihn mit einem Augenzwinkern und knuffte ihn grinsend in den stattlichen Bauch.

 

Schon aus frühester Kindheit hatte sie ihren Onkel als stark übergewichtig in Erinnerung. Aber das hatte sie nie gestört. Im Gegenteil, sie liebte diesen lebenslustigen, humorvollen Mann, dem es egal war, was Andere über ihn dachten. Er lebte sein Leben so, wie er es für richtig hielt. Sollten die Nachbarn und Kollegen sich doch ruhig das Maul über ihn zerreißen. Er fühlte sich wohl, und wer ihn wirklich mochte, der störte sich auch nicht an seinen überflüssigen Kilos. Auch Hedda war es viel wichtiger gewesen, dass ihr Onkel immer für sie da war, wenn sie ihn gebraucht hatte. Denn egal, ob sie als Kind einen Spielkameraden oder als Teenager jemanden zum Reden oder einfach nur zum Zuhören gebraucht hatte, ihr Onkel war immer für sie da gewesen.

 

Daran hatte sich auch nichts geändert, als sie vor vier Jahren mit ihren Eltern von Emden nach Bremen umziehen musste. Ihr Vater hatte dort eine leitende Position bei einer Privatbank angenommen. Seitdem hatte er noch weniger Zeit für seine Tochter, als es ohnehin schon der Fall gewesen war. Auch das Verhältnis zu ihrer Mutter hatte sich durch den Umzug nicht verbessert. Sie konnte einfach nicht akzeptieren, dass ihre kleine Tochter nach und nach zu einer eigenständigen Frau herangewachsen war.

 

Bereits in Emden hatte die einsetzende Pubertät häufig zu Streitigkeiten zwischen Mutter und Tochter geführt. Deshalb war schon damals Heddas Onkel ihr engster Vertrauter gewesen. Mit ihm konnte sie immer über alles reden. Er hörte ihr zu und gab ihr das Gefühl, dass er sie verstand. Ein Gefühl, das ihre Eltern ihr zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr geben konnten. Immer wenn ihr zu Hause die Decke auf den Kopf gefallen war, hatte sie sich in den Bus gesetzt und war einfach zu ihrem Onkel gefahren. Auch nach ihrem Umzug hatte sich daran nichts geändert. Der einzige Unterschied bestand lediglich darin, dass sie fast ausschließlich miteinander telefonierten, da Hedda ja nicht mehr ohne weiteres mit dem öffentlichen Nahverkehr zu ihm fahren konnte.

 

»Sarinya kocht einfach zu gut!« Ein stolzes Lächeln erstrahlte auf Willms Gesicht und er rieb sich demonstrativ mit seinen Händen über den Bauch. »Du hast dich aber auch ein wenig verändert!« Er musterte seine Nichte von Kopf bis Fuß. Ihren neuen Look kannte er bisher nur von den Fotos, die sie ihm auf sein Handy geschickt hatte.

 

Heddas Lächeln hingegen erstarb augenblicklich. Sie hatte Sarinya erst ein einziges Mal persönlich getroffen. Das war auf der Hochzeit vor etwa einem Jahr gewesen. Ansonsten wusste sie nur das, was Willm ihr über sie vorgeschwärmt hatte. Aber da waren eben auch die Gespräche ihrer Eltern, die von Anfang an ein eindeutiges Urteil über die junge Ausländerin gefällt hatten. Und auch Heddas Misstrauen gegenüber der 20 Jahre jüngeren Frau, die ihr Onkel in einem seiner Thailand-Urlaube kennengelernt hatte, wollte einfach nicht verschwinden. Auch wenn sie fand, dass ihr Onkel durchaus liebenswert war, zweifelte sie doch an den ehrlichen Absichten ihrer neuen Tante.

 

Willm tat so, als habe er die Reaktion seiner Nichte nicht bemerkt. Er kannte die Blicke, die die Leute ihm und seiner Sarinya zuwarfen, wenn sie Händchen haltend durch den Ort liefen. Er hörte ihr Getuschel, wenn sie ihnen den Rücken zukehrten. Aber all diese Leute waren ihm egal. Heddas Meinung war ihm hingegen sehr wichtig. Sie sollte seine Frau genauso kennenlernen, wie sie war. Hedda sollte selbst erkennen, wie wundervoll Sarinya war. Auch das war einer der Gründe, warum er seine Nichte für die nächsten Monate zu sich geholt hatte.

 

»Ich fahre dich jetzt erst mal in dein neues Zuhause!« Lächelnd drückte er ihr die verbliebenen Luftballons in die Hand und ging an ihr vorbei, um ihren Koffer zu holen.

 

Die Autofahrt vom Bahnhof in Leer zum Haus ihres Onkels dauerte nur etwa 15 Minuten. Während der Fahrt schaute Hedda gedankenverloren aus dem Fenster. Als sie den Ems-Park, ein großes Einkaufszentrum, das auf halber Strecke zwischen Leer und Neermoor lag, passierten, staunte Hedda über den nahezu leeren Parkplatz. Normalerweise platzte dieser an einem Wochentag doch aus allen Nähten.

 

»Ist der Ems-Park heute geschlossen?«

 

»Vor ein paar Monaten haben der famila-Supermarkt und der Telepoint-Elektromarkt geschlossen. Seitdem ist hier kaum noch was los!«

 

»Wieso das denn?«, fragte Hedda fassungslos. Unzählige Male war sie mit ihrem Onkel zum Einkaufen hier gewesen.

 

»Hat wohl geschäftspolitische Gründe. Ist aber nicht so schlimm. Dafür haben wir jetzt einen Netto-Markt direkt in Neermoor. Da gehe ich jetzt immer einkaufen.«

 

Hedda runzelte fragend die Stirn. »Wie lange bin ich nicht mehr bei dir gewesen?«, fragte sie lächelnd.

 

»Zu lange!«, antwortete Willm und lächelte zurück.

 

Willms modernes Einfamilienhaus lag etwas abseits der Ortschaft in direkter Nähe zum Badesee des Ortes. Ihr Onkel hatte es gebaut, nachdem er einen größeren Geldbetrag im Casino in Bad Zwischenahn gewonnen hatte. Wie hoch der Gewinn tatsächlich gewesen war und wie er es geschafft hatte, einen so abgelegenen Bauplatz direkt in der Nähe des Sees zu bekommen, war bis heute sein Geheimnis. Heddas Eltern gingen jedoch davon aus, dass er von seinem Gewinn eine hohe Spende oder vielleicht sogar ein Schmiergeld gezahlt haben musste, damit ihm dieses Sonderrecht gewährt worden war.

 

Hedda stieg aus dem Wagen und betrachtete ihr vorübergehendes Zuhause, während Willm ihren Koffer und die Luftballons aus dem Auto holte. Ihr Blick fiel zunächst auf das gelbe Schild, das am Gartentor angebracht worden war und vor einem bissigen Hund warnte. Dann bemerkte sie die Hundehütte im Vorgarten, vor der ein Napf, ein Hundespielzeug, ein abgekauter Knochen und eine lange Eisenkette auf dem Boden lagen.

 

»Seit wann hast du denn einen Hund?«, schrie sie ihren Onkel wütend an. »Und warum hältst du das arme Tier an der Kette? Weißt du nicht, dass das verboten ist? Hat deine Frau dich etwa zu dieser Tierquälerei überredet?« Trotzig verschränkte sie die Arme vor ihrer Brust und fixierte ihren schwer beladenen Onkel mit einem bösen Blick.

 

Willm schaute sie irritiert an. Er brauchte einen Moment, bis er begriff, was seine Nichte überhaupt meinte. »Ach das!« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Komm erst mal mit rein, dann erkläre ich dir alles!« Er stapfte an ihr vorbei, öffnete das Tor zum Vorgarten und marschierte auf die Haustür zu.

 

Hedda überlegte noch einen Moment, ob sie ihm wirklich folgen oder lieber Wurzeln schlagen wollte, lief ihm dann aber doch hinterher.

 

»Wir sind da!« Willm schrie so laut durch das Haus, dass Hedda sich erschrocken die Ohren zuhielt. Sie hatte ganz vergessen, was für ein lautes Stimmorgan er hatte.

 

Fast im selben Augenblick betrat Sarinya den Hausflur. Etwas verschüchtert blieb sie in einigen Metern Abstand vor Willm und Hedda stehen. Sie lächelte Hedda verlegen an und neigte ihren Kopf zur Begrüßung leicht nach vorne.

 

Willm ging auf seine Frau zu, legte ihr seinen Arm um ihre zierlichen Schultern und zog sie einige Schritte mit sich, bis sie schließlich direkt vor Hedda standen. Es war ein wirklich komischer Anblick, denn Willm war nicht nur zwei Köpfe größer, sondern auch mindestens 80 Kilo schwerer als seine Frau, die neben ihm wie ein zerbrechliches Schulmädchen wirkte.

 

»Das ist meine Lieblingsnichte, Hedda!«, stellte Willm sie vor.

 

»Was nicht viel zu sagen hat, schließlich bin ich ja auch deine einzige Nichte!«, konterte Hedda und streckte Sarinya die Hand entgegen. »Ich freue mich, dich kennenzulernen. Auf der Hochzeit hatten wir ja kaum Gelegenheit dazu.«

 

Sarinya schaute zunächst etwas irritiert, nahm dann aber doch die ihr dargebotene Hand. Ihr fester Händedruck überraschte Hedda. So viel Kraft hatte sie der zierlichen Frau überhaupt nicht zugetraut.

 

»Ihr werdet bestimmt noch ganz dicke Freundinnen!« Willm schlang seinen freien Arm um Heddas Nacken und presste die beiden Frauen so nahe an sich, dass ein Außenstehender annehmen musste, er würde beide im Schwitzkasten halten.

 

Freundinnen? Vom Alter her könnte sie wirklich eher meine Freundin als meine Tante sein, dachte Hedda, nachdem ihr Onkel sie wieder aus seiner Umklammerung entlassen hatte und sie einen weiteren prüfenden Blick auf ihre Tante werfen konnte.

 

»Komm, ich zeige dir dein Zimmer!« Er hob den Trolley an und ging die Treppenstufen hinauf.

 

Hedda folgte ihm. Als sie den Raum betreten hatte, der für die nächsten Monate ihr Zimmer sein sollte, kam sie aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die komplette Frontseite war verglast, sodass jede Menge Sonnenlicht in den etwa 16 Quadratmeter großen Raum fiel. Über eine Terrassentür hatte sie direkten Zugang zu einem großzügigen Balkon.

 

Sie stellte sich an das Geländer und ließ den Blick schweifen. Hinter dem Grundstück ihres Onkels lagen etwa einhundert Meter Wiese. Darauf folgten einige hochgewachsene Büsche und kleinere Bäume, hinter denen direkt das Wasser des Badesees zu erkennen war.

 

»Ein Zimmer mit Meerblick! Wie geil ist das denn!«, scherzte sie vergnügt, ohne dabei den wunderschönen Ausblick aus den Augen zu lassen.

 

»Schön, oder? Weißt du eigentlich, wie dieser See entstanden ist?«

 

Hedda zuckte fragend mit den Schultern. »Keine Ahnung! War der nicht schon immer da?«

 

Willm schmunzelte. »Nein!«, antwortete er. »Hier wurde der Sand abgebaut, der für den Bau des Emstunnels benötigt wurde. Hinterher hat die Gemeinde dann dieses Naherholungsgebiet für ihre Bürger geschaffen.«

 

»Wann wurde denn der Emstunnel eigentlich gebaut?«, fragte Hedda neugierig nach.

 

»Das war Ende der 80er. Man wollte damals eine bessere Verkehrsanbindung zwischen Ostfriesland und dem Ruhrgebiet herstellen, um daraus wirtschaftliche Vorteile für die Region zu generieren.«

 

»Ende der 80er. Da war ich ja noch nicht einmal geboren. Woher soll ich das denn auch wissen?« Hedda winkte ab und richtete ihren Blick wieder auf den See. »Der Ausblick ist wirklich fantastisch!«

 

»Wahrscheinlich ist es damit aber bald vorbei!« Willm klang auf einmal sehr bedrückt.

 

Hedda schaute ihren Onkel fragend an. »Wieso? Müsst ihr wegziehen?«

 

»Nein.« Willm schüttelte den Kopf. »Aber die Gemeinde ist kurz davor, den Bau eines großen Hotels mit Freizeitanlage direkt am See zu genehmigen. Und der Klotz würde dann wahrscheinlich genau dort stehen und uns die Sicht versperren.« Er zeigte auf die freie Fläche, die sein Haus und den See voneinander trennten.

 

Hedda legte nachdenklich ihre Stirn in Falten. »Ein großes Hotel in Neermoor, lohnt sich das denn?« Sie kannte den Ort aus der Zeit, als sie mit ihren Eltern noch in Emden gewohnt hatte. Es war sicherlich ein ganz nettes Fleckchen, aber wollten hier wirklich Leute ihren Urlaub verbringen? Außerdem gab es doch bereits einige Hotels in der Gegend.

 

»Das Ganze hängt wohl mit der Ostfriesland-Olympiade zusammen, die hier im letzten Jahr zum ersten Mal ausgetragen wurde. Das Ereignis war wohl viel erfolgreicher, als man sich das damals erhofft hatte. Sie soll jetzt jedes Jahr stattfinden. Außerdem sind weitere kreative Maßnahmen geplant, um den Tourismus zu fördern. Anscheinend hat man in den Urlaubern eine ganz neue Einnahmequelle entdeckt. Und der Hotelinvestor sieht das wohl genauso.«

 

»Aber bekommt man denn für so etwas ohne Weiteres eine Baugenehmigung?«

 

Willm schmunzelte müde. »Das ist leider alles eine Frage des Geldes. Niemand weiß das besser als ich.«

 

Erst jetzt erinnerte sich Hedda wieder daran, dass ja auch ihr Onkel vermeintlich nur deshalb hier hatte bauen dürfen, weil er die Gemeinde mit einer großzügigen Spende bedacht hatte.

 

Wie fies!, dachte sie. Erst lassen die ihn für viel Geld ein Grundstück mit traumhafter Aussicht kaufen, nur um ihm dann einige Jahre später ein großes Hotel vor die Nase zu setzen.

 

»Kannst du denn nichts dagegen unternehmen?«

 

»Ich habe doch schon alles versucht! Aber die Argumente der Investoren sind einfach besser, verstehst du?« Er hielt ihr seine Hand vors Gesicht und rieb mit dem Daumen an seinem Mittel- und dem Ringfinger seiner rechten Hand, um so den finanziellen Aspekt zu visualisieren.

 

»Aber jetzt lass uns über etwas anderes reden! Wir wollen uns doch die gute Stimmung nicht kaputtmachen lassen.«

 

Beim Stichwort “Stimmung“ fiel Hedda die Eisenkette im Vorgarten wieder ein. »Wieso kettest du euren Hund an eine Eisenkette? Das ist Tierquälerei!«

 

Willm lachte seine Nichte an.

 

»Was gibt es denn da zu lachen? Ich finde das überhaupt nicht witzig!«, reagierte sie gereizt.

 

»Wir haben überhaupt keinen Hund. Sarinya hat sogar panische Angst vor Hunden, seit sie als Kind mal von einem streunenden Köter gebissen worden ist.«

 

Hedda hob skeptisch die Augenbrauen. »Und was sollen dann die Hundehütte und die anderen Utensilien im Vorgarten?«

 

»Die Leute sollen glauben, dass wir einen gefährlichen Hund haben«, antwortete Willm ihr. »Und anscheinend funktioniert das ja auch!« Er lächelte Hedda vielsagend an.

 

»Das verstehe ich nicht. Warum?«

 

»Deine Eltern haben dir doch sicher auch von meinem gigantischen Casino-Gewinn erzählt?«

 

Hedda nickte.

 

»Ich habe tatsächlich eine größere Summe beim Glücksspiel gewonnen und davon dieses Haus bezahlt. Aber übrig ist von dem Geld nichts mehr. Trotzdem variieren die Gerüchte über die Höhe der gewonnenen Summe sehr stark. Es gibt immer noch Leute, die glauben, ich wäre steinreich. Und da wir hier so abseits wohnen, haben wir uns halt einen Wachhund ...«, er deutete mit seinen Händen zwei Gänsefüßchen an, »... zugelegt.«

 

»Ach so, und ich dachte schon, du wärst zum Tierquäler mutiert.« Sie umarmte ihren Onkel, presste ihren Kopf an seine weiche Brust und schaute auf den See hinaus. »Ich freue mich wirklich, hier zu sein«, seufzte sie zufrieden.

 

»Das ist schön!« Er streichelte ihr sanft über den Hinterkopf. »Ich möchte, dass du dich hier so zu Hause wie möglich fühlst. Darum habe ich auch für heute Abend ein paar Freunde zum Grillen eingeladen.«

 

Hedda löste sich von ihrem Onkel und schaute ihn fragend an. »Eine Begrüßungsparty? Extra für mich?« Sie wusste nicht recht, ob sie sich geschmeichelt fühlen oder ärgern sollte, denn eigentlich hatte sie keine Lust auf den Trubel.

 

»Es sind nur ein paar wenige, wirklich enge Freunde aus dem Dorf. Du sollst dir hier einfach nicht so verloren vorkommen.«

 

Hedda atmete tief ein und sortierte ihre Gefühle. Eigentlich ist es ja eine ganz nette Idee von ihm, dachte sie.

 

»Okay, ich bin einverstanden!«

 

»Das freut mich! Komm, wir gehen in die Küche. Sarinya hat bestimmt schon den Tee fertig. Außerdem wollte sie zu deiner Begrüßung extra ihre leckeren Banana Pancakes machen.«

 

»Was ist denn das?«

 

»Das sind dünne, in Fett gebadete Pfannkuchen. In Thailand gibt es die Dinger an fast jeder Straßenecke. Die musst du unbedingt probieren!« Er rieb sich mit den Händen über seinen dicken Bauch und gab einige schmatzende Laute von sich.

 

Als sie in die Küche kamen, war der Tisch bereits gedeckt. Die Luft des Raumes war durchtränkt mit einem süßlich-fettigen Geruch.

 

Sarinya hatte sich eine Schürze umgebunden und stand noch am Herd, um die letzten Banana Pancakes fertig zu braten. »Essen gleich fertig! Setzen doch bitte!«

 

Hedda und ihr Onkel setzten sich an den Küchentisch. Während Willm die Teetassen füllte, begutachtete Hedda erneut ihre neue Tante.

 

Sie ist wirklich wunderschön.

 

Sarinya trug ihr glattes pechschwarzes Haar offen. Es reichte ihr bis zu den Schulterblättern. Als sie sich umdrehte, um die letzten Banana Pancakes auf den Tisch zu stellen, konnte sie ihre typisch asiatischen Augen bewundern. Sarinya lächelte Hedda an, als sie ihr direkt in die Augen schaute. Dabei entblößten ihre Lippen eine Reihe strahlend weißer Zähne, die einen tollen Kontrast zu ihrer leicht gebräunten Haut bildeten.

 

Kein Wunder, dass Willm sich in sie verliebt hat!

 

Sarinya setzte sich zu ihnen an den Tisch.

 

»Danke, mein Schatz!« Willm beugte seinen Oberkörper zu seiner Frau hinüber, um ihr einen Kuss geben zu können.

 

Was war denn das? Hat sie etwa gerade die Augen verdreht, als Willm sie küssen wollte? Auch wenn Sarinyas Reaktion allenfalls den Bruchteil einer Sekunde gedauert hatte, so glaubte Hedda doch, eine Art Ablehnung in ihrem Verhalten ausgemacht zu haben.

 

Ihr Onkel schien allerdings nichts davon bemerkt zu haben. Er hatte bereits einen Banana Pancake auf seinem Teller und schob den ersten Bissen genüsslich in sich hinein.

 

Ich sollte Sarinya eine Chance geben und nicht gleich am ersten Tag nach Anzeichen dafür suchen, dass sie nur wegen des Geldes mit ihm verheiratet ist, dachte Hedda und nahm sich fest vor, in den nächsten Tagen erst einmal nicht mehr an der Echtheit von Sarinyas Gefühlen zu zweifeln.

 

 

 

*

 

 

 

Gegen 18:00 Uhr trudelten so langsam die ersten Gäste ein. Hedda war ziemlich aufgeregt. Sie mochte es nicht besonders, im Mittelpunkt zu stehen. Aber als Hauptattraktion der Grillparty würde sie darum wohl kaum herumkommen. Artig begrüßte sie daher die ankommenden Leute und ließ sich von ihrem Onkel vorstellen. Niemals würde sie sich die ganzen Namen auf einmal merken können.

 

Natürlich gab es von den Gästen auch immer wieder Fragen nach dem Grund ihres Aufenthaltes. Ihre Gesprächspartner dabei zu beobachten, wie sie reagierten, als sie ihnen unter anderem auch von ihrem Praktikumsplatz beim Bestatter erzählte, machte Hedda hingegen richtig Spaß. Die meisten Menschen hatten ein sehr distanziertes Verhältnis zum Tod. Sie taten zwar alle so, als wären sie neugierig und interessiert, aber in ihren Gesichtern konnte Hedda genau erkennen, was sie in Wirklichkeit über ihre beruflichen Pläne dachten.

 

Als einer der letzten Gäste kam der Bestatter, bei dem sie das Praktikum absolvieren durfte. Er kam in Begleitung eines jungen Mannes, der nach Heddas Schätzung nur wenige Jahre älter war als sie selbst.

 

»Moin, mein Name ist Bento Frerichs, und das ist mein Sohn Enno.« Er streckte zunächst Hedda seine Hand entgegen und dann ihrem Onkel. Sein Sohn tat es ihm gleich. »Mir gehört das Bestattungsunternehmen im Ort. Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie die junge Dame sind, die sich für ein Praktikum in meinem Unternehmen beworben hat?« Er schaute Hedda direkt in die Augen.

 

»Das stimmt! Ich bin Hedda. Freut mich, Sie kennenzulernen!« Sie lächelte ihn verlegen an. Sein bohrender Blick machte sie schon ein wenig nervös. Er war ein Mann von großer, hagerer Statur. Sein Kopf war kahl rasiert und seine Augen lagen so tief in ihren Höhlen, dass sie von einem bedrohlich wirkenden Schatten verdunkelt wurden.

 

»Hast du dir das wirklich gut überlegt?«, stieg jetzt auch Enno in das Gespräch ein und gab ihr so die Möglichkeit, den Blickkontakt mit seinem Vater zu lösen.

 

Hedda wandte sich ihm zu. Er hatte die blauesten Augen, die sie jemals gesehen hatte. Die Ärmel seines T-Shirts spannten sich um seine durchtrainierten Oberarme. Sein kurzes blondes Haar hatte er mit etwas Haargel gestylt. Er war ganz und gar ihr Typ.

 

»Ich weiß auch nicht, was bei mir falsch gelaufen ist, aber irgendwie interessiert mich das Thema. Ich muss einfach ausprobieren, ob der Beruf etwas für mich sein könnte«, antwortete sie schulterzuckend.

 

Während Bento Frerichs ihre Aussage mit einem leicht verkniffenen Gesichtsausdruck quittierte, entlockte sie seinem Sohn ein freches Grinsen.

 

»Für mich war es jedenfalls nichts! Darum bin ich lieber zur Polizei gegangen.«

 

Hedda bemerkte, wie Bento Frerichs seinen Sohn für diese Aussage mit einem missbilligenden Blick bedachte. Er hatte wahrscheinlich immer darauf gehofft, dass sein Filius eines Tages den Betrieb übernehmen würde.

 

»Polizei, das klingt aber sehr spannend! Davon musst du mir nachher unbedingt noch erzählen!«

 

»Ich glaube, wir gehen lieber mal weiter!« Bento Frerichs packte seinen Sohn am Handgelenk und zog ihn mit sich. »Bevor du mir auch noch meine potentielle Nachfolgerin vergraulst.«

 

Er hatte versucht, seine Worte scherzhaft klingen zu lassen, aber Hedda konnte deutlich die Enttäuschung in seiner Stimme hören. Sie schaute den beiden nach. Dabei blieb ihr Blick ungewollt auf Ennos knackigem Hintern kleben.

 

»Na, gefällt er dir?« Willm knuffte seiner Nichte augenzwinkernd in die Seite.

 

»Was du schon wieder denkst! Die Trennung von Jan ist doch gerade mal ein paar Wochen her. Männer im Allgemeinen können mir gerne noch eine Zeitlang gestohlen bleiben. Die machen doch ohnehin nur Ärger.«

 

»Wie du meinst!« Ihr Onkel legte grinsend seinen Arm um sie und zog sie mit sich hinter das Haus.

 

Hedda ließ ihren Blick durch den Garten schweifen. Insgesamt verteilten sich etwa 20 Gäste auf der Rasenfläche. Ihr Onkel hatte also tatsächlich nur seine engsten Freunde eingeladen.

 

»Wo ist eigentlich Sarinya?«, fragte sie ihn, nachdem sie ihre Tante nirgendwo entdecken konnte.

 

»Sie hat gerade schlimme Kopfschmerzen bekommen und hat sich etwas hingelegt. Sie leidet leider unter Migräne, und die Anfälle kommen immer ohne lange Vorwarnzeit.«

 

»Das ist ja blöd!« Heddas Mutter hatte auch oft mit migräneartigen Kopfschmerzen zu kämpfen. Sie wusste daher genau, wie schlecht es Sarinya gerade ging.

 

Vielleicht hat sie ja auch nur deshalb beim Teetrinken so komisch reagiert?, dachte sie und hatte gleich ein schlechtes Gewissen.

 

»Ich muss jetzt den Grill anschmeißen, bevor noch eine Panik unter den Gästen ausbricht!«, scherzte Willm. »Ich habe mir gedacht, du könntest dich vielleicht um die Getränke kümmern? Dann hättest du immer einen guten Grund, um mit den Leuten ins Gespräch zu kommen.«

 

»Wird erledigt, Onkelchen!« Zum Spaß straffte Hedda ihren Körper und salutierte wie ein folgsamer Soldat.

 

»Na dann: weggetreten!«

 

Hedda steuerte direkt auf den Bereich zu, in dem ihr Onkel die Getränke aufgebaut hatte. Neben Bier und Sekt gab es auch Wasser, diverse Limonaden und auch härtere Alkoholika im Angebot. Willm hatte wirklich für jeden Geschmack etwas besorgt. Sie nahm ein Tablett und bestückte es mit ein paar Schnapsgläsern und Plastikbechern. Dann stellte sie noch einige Getränke dazu, steckte sich einen Flaschenöffner in die Gesäßtasche ihrer Jeans und steuerte die erste Gesprächsgruppe an. Das Tablett war so schwer, dass sie große Schwierigkeiten hatte, das Gleichgewicht zu halten. Sie hatte sich eindeutig zu viel zugemutet.

 

»Darf ich Ihnen vielleicht etwas zu trinken anbieten?«

 

Erst als sie direkt vor der Gruppe zum Stehen gekommen war, schaffte sie es, von ihrem Tablett aufzublicken. Das Erste, was sie dabei sah, waren Ennos wundervolle blaue Augen.

 

»Das ist doch viel zu schwer für dich. Komm, Mädchen, ich helfe dir!«, scherzte einer der älteren Männer aus der Runde, dessen Namen Hedda schon wieder vergessen hatte. Er nahm sich gleich vier Bierflaschen vom Tablett und verteilte sie an die Umherstehenden.

 

»Danke!« Hedda spürte sofort, dass ihr Tablett merklich leichter geworden war. »Ich gehe dann mal die übrigen Gäste bewirten«, sagte sie und wandte sich zum Gehen.

 

»Halt!«, sagte einer der anderen Männer aus der Runde. »Gibt es denn heute keinen Kruiden

 

Heddas Blick musste Bände gesprochen haben. Denn ohne eine Antwort abzuwarten, setzte der Mann schon zur Erklärung an. Er musste erkannt haben, dass sie noch nie etwas von diesem Getränk gehört hatte.

 

»Kruiden ist ein Kräuterbitter, der von diversen Herstellern in Leer produziert wird. Es gibt nichts Besseres vor dem Essen«, sagte er und erntete für seine Antwort das zustimmende Nicken der übrigen Männer.

 

»Ach so! Ich werde gleich mal nachsehen, ob wir so was dahaben«, sagte Hedda und wandte sich zum Gehen.

 

»Moment!«, sagte Enno und zog mit einer flinken Handbewegung den Flaschenöffner aus ihrer Gesäßtasche.

 

Hedda spürte sofort, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Dabei hatte er ihren Hintern nicht einmal berührt.

 

Nun reiß dich mal zusammen! Vergiss nicht, du hast von Männern zurzeit die Schnauze voll, beschwor sie sich selbst.

 

Sie wandte sich wieder der Gruppe zu, vermied es dabei aber, Enno direkt anzusehen. Er sollte keinesfalls bemerken, dass sie wegen ihm errötet war.

 

»Soll ich ihn wieder zurückstecken?«, fragte Enno, nachdem er alle Bierflaschen geöffnet hatte. Ein kaum sichtbares Grinsen umspielte seine Mundwinkel.

 

»Leg ihn auf das Tablett. Da ist ja jetzt wieder Platz!«, antwortete Hedda und versuchte, dabei möglichst uninteressiert zu klingen.

 

 

 

Den restlichen Abend verbrachte Hedda damit, die Gäste zu bewirten. Hin und wieder blieb sie auch stehen und beantwortete geduldig die neugierigen Fragen, die mit zunehmendem Alkoholpegel immer direkter wurden. Gegen Mitternacht verabschiedete sie sich jedoch von den noch Anwesenden. Es war ein aufregender, aber auch sehr anstrengender Anreisetag gewesen, und sie wollte jetzt nur noch in ihr Bett.


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