Prolog

 

Die Geburtstagsüberraschung

 

15. April

 

Er rief laut »Tschüss!« und zog die Tür hinter sich zu. Das war mein Zeichen. Als wir am Nachmittag im Café ›Hohe Düne‹ gesessen hatten, kam mir spontan eine Idee, wie ich meine geplante Geburtstagsüberraschung doch noch realisieren konnte. Hastig lief ich ins Gästezimmer. Sein Laptop stand aufgeklappt auf dem Schreibtisch. Ich schaltete ihn ein und sah zu, wie der Bildschirm aufleuchtete. »Verdammt«, fluchte ich leise vor mich hin. Das Gerät hatte einen Fingerabdruckscanner und verlangte die biometrischen Daten seines Eigentümers, um den Zugriff auf die gespeicherten Dateien zu erlauben. Ich legte meinen Zeigefinger auf. Natürlich erfolglos. Dann bemerkte ich einen kleinen Text, der mich darauf hinwies, dass ich alternativ auch ein Passwort eingeben konnte. Ich klickte auf den entsprechenden Link und ein kleines Eingabefenster öffnete sich. Ich probierte es mit seinem Vornamen, seinem Nachnamen und sämtlichen Kombinationen daraus. Alles falsch. Mein Herz schlug immer schneller und während ich nachdachte, schaute ich immer wieder auf die Uhr. Er wollte nur einmal schnell zum Bäcker laufen, um Brötchen für das Frühstück zu besorgen. Lange dürfte er nicht mehr fort sein. Hätte ich mir doch damals bloß nicht diesen Computervirus eingefangen, dann hätte ich das Foto noch auf meinem eigenen Rechner, verfluchte ich mich in Gedanken selbst. Ich hatte vor zwei Monaten achtlos auf einen Link geklickt und mir dadurch ein Schadprogramm heruntergeladen, das alle meine Dateien unwiederbringlich zerstört hatte. Die meisten davon hatte ich auf einer externen Festplatte gesichert. Nur als ich gestern nach dem benötigten Foto suchte, das uns beide kurz nach unserem ersten Aufeinandertreffen zeigte, konnte ich es einfach nicht finden. Bei dem Gedanken an die geplante Überraschung kam mir eine weitere Idee. Ich tippte das Datum seines Wiegenfestes ein. Falsch. Ich stellte Jahr, Monat und Tag um. Erfolglos. Dann traf mich die Erkenntnis wie ein Schlag. Die wenigsten Menschen feierten zwei Mal im Jahr Geburtstag. Meine Finger flogen aufgeregt über die Tasten. Volltreffer! Eine Welle der Euphorie flutete meinen Körper. Auf dem Desktop befanden sich unzählige Icons und Dateiordner. Ich suchte nach etwas, was so aussah, als habe er hier seine Fotos archiviert, blieb stattdessen aber an einer Bezeichnung hängen, die mich stutzig machte. Auch wenn ich wusste, dass ich hier mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht das gesuchte Foto finden würde, klickte ich darauf. Das Inhaltsverzeichnis listete mir ein Dutzend Videodateien auf. Ich öffnete den ersten Clip und blickte in das Gesicht eines Mannes, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Er war unbekleidet, saß auf dem Fußboden und war mit Handschellen an ein Bettgestell gekettet. Überrascht war ich davon nicht. Auch wenn er es nie gesagt hatte, war ich schon immer davon ausgegangen, dass er homosexuell sein könnte. Vor die Kamera traten plötzlich zwei Frauenbeine, die den Nackten teilweise verdeckten. Man konnte nur die in schwarze Seidenstrümpfe gehüllten Unterschenkel erkennen. Die Füße steckten in hochhackigen, rot glänzenden Pumps. Entweder war er doch nicht schwul oder … Ich brachte den Gedanken nicht zu Ende, denn was als Nächstes auf dem Monitor geschah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. In Schockstarre saß ich vor dem Bildschirm und suchte nach einer logischen Erklärung für das Gesehene – fand aber keine. In der Hoffnung, in den verbliebenen Videodateien einen Hinweis darauf zu finden, dass es sich lediglich um gefakte Aufnahmen handelte, öffnete ich zwei weitere Clips. Doch auch diese abstoßenden Szenen wirkten auf mich leider absolut authentisch. Der Ablauf war jedes Mal der gleiche und jeder Clip endete mit einem harten Cut, ehe zum Schluss jeweils eine ausgeschnittene Todesanzeige eingeblendet wurde. Die Namen der drei Verstorbenen notierte ich mir auf einem kleinen Zettel. Ich würde überprüfen, ob sie wirklich gestorben waren. Aber ich hatte wenig Hoffnung, dass dem nicht so war. Darum holte ich einen USB-Stick aus meinem Büro, schloss ihn an den Laptop an und leitete den Kopiervorgang ein. Sollte die Überprüfung der Traueranzeigen meinen Verdacht bestätigen, musste ich die Videos der Polizei übergeben. 

Bitte bestätigen Sie den Kopiervorgang, las ich die Aufforderung auf dem Bildschirm. Dass er die Dateien vor einer unberechtigten Vervielfältigung gesichert hatte, bekräftigte mein ungutes Gefühl. Wieder gab ich das Datum seines zweiten Geburtstages ein. Ein akustischer Warnton ließ mich zusammenzucken. Mit weit aufgerissenen Augen las ich mir den Text eines zusätzlich aufgepoppten Dialogfensters auf dem Monitor selbst vor: »Es wurde ein nicht autorisierter Kopiervorgang registriert.« Ich versuchte, das Fenster zu schließen. Doch es ging nicht. Ich schaltete den Laptop aus und fuhr ihn erneut hoch. Das Fenster war immer noch da. »Scheiße! Scheiße! Scheiße!«, fluchte ich vor mich hin. Er durfte auf keinen Fall erfahren, dass ich das gesehen hatte. Plötzlich hörte ich die Haustür. »Bin wieder da!«, rief er mir fröhlich zu. Ich geriet in Panik. Was sollte ich nur tun? Mein Blick fiel auf die Glaskaraffe, die er heute Morgen mit heißem Wasser gefüllt hatte. Obwohl er heute eigentlich freihatte, wollte er nach dem Frühstück noch ein paar Stunden etwas ausarbeiten, und er brauchte immer ausreichend Flüssigkeit, wenn er am Laptop saß. Ich dachte nicht lange nach, schnappte mir das vollständig gefüllte Gefäß und kippte es über die Tastatur. Das erhoffte Ergebnis trat sofort ein. Eineinhalb Liter Wasser machten dem Gerät unverzüglich den Garaus. 

 

1. Kapitel

 

Eine Überraschung für Bento

 

15. Februar

 

Seit ihren Ermittlungen auf Wangerooge waren schon wieder ein paar Monate vergangen. Hedda und Enno waren auf dem Weg nach Neermoor, um Bento zu besuchen. Sie hatten Ennos Vater schon lange nicht mehr gesehen, waren aber auch deshalb gerade heute unterwegs, weil sie vor Kurzem eine erfreuliche Nachricht bekommen hatten, die sie ihm unbedingt persönlich mitteilen wollten. »Halt hier mal kurz an!« Hedda zeigte auf einen Supermarkt, der am Wegesrand lag. »Ich will noch etwas besorgen.« Enno lenkte seinen Polo auf den dazugehörigen Parkplatz. »Was willst du denn kaufen?«, fragte er, nachdem er den Motor abgestellt hatte. »Lass dich überraschen.« Hedda beugte sich über die Mittelkonsole, gab ihrem Mann einen Kuss und stieg aus dem Fahrzeug. »Bin gleich wieder da!« Sie zwinkerte ihm zu und ließ die Beifahrertür ins Schloss fallen. Nur wenige Minuten später war sie zurück, öffnete den Kofferraum und verstaute ihren Einkauf darin. Erst nachdem sie die Klappe wieder geschlossen hatte, setzte sie sich zurück auf ihren Platz. Fragend schaute Enno seine Frau an. An ihrem geheimnisvollen Blick erkannte er sofort, dass er sich seine Frage eigentlich sparen konnte. Deshalb stellte er sie so, dass klar war, dass er sie nur rhetorisch meinte. »Du verrätst mir nicht, was du gekauft hast, oder?« Mit einem breiten Grinsen auf den Lippen schüttelte Hedda den Kopf. Enno kannte seine Ehefrau gut genug, um zu wissen, dass er nicht weiter nachzubohren brauchte. »Ich denke, unsere Überraschung allein wird ihn schon aus den Socken hauen. Ich hoffe, dein Einkauf macht es für ihn nicht noch schwieriger.« Er zog die Augenbrauen hoch, während er ihr einen letzten unsicheren Blick zuwarf. Dann startete er den Motor und lenkte seinen Polo zurück auf die Hauptstraße. 

Während Hedda durch das Seitenfenster die vorbeifliegenden Häuser betrachtete, erinnerte sie sich an den Moment zurück, in dem sie den grundlegenden Entschluss für ihre heutige Überraschung gefällt hatte. Das war kurz vor ihrer Hochzeit mit Enno gewesen. Damals hatte sie gemeinsam mit Enno vor Bento Frerichs’ Haus gestanden und an die vielen Monate gedacht, die sie hier verbracht hatte. Sie hatte sich gefragt, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn ihr Onkel Willm ihr damals nicht den Praktikumsplatz im Bestattungsinstitut von Ennos Vater besorgt hätte. Auf keinen Fall wäre ich Mitglied einer Spezialeinheit geworden, die am Rande der Legalität Mordfälle aufklärt, war sie sich sicher gewesen. Und auch Enno hätte sie wahrscheinlich niemals kennen und lieben gelernt. Noch bevor sie klingeln konnten, hatte ihnen Bento Frerichs bereits die Tür geöffnet. Ennos Vater war schon immer von sehr großer und hagerer Gestalt gewesen. Doch in den vorangegangenen Monaten schien er noch mehr an Gewicht verloren zu haben. Die dunklen Schatten, die seine tief liegenden Augen umrahmten, wirkten düsterer als jemals zuvor. Das junge Paar machte sich große Sorgen um ihn, auch wenn er stets beteuerte, dass ihm gesundheitlich nichts fehlen würde. Bentos Gesicht, das ansonsten meist regungslos war, hatte sich aufgehellt, als er seinen Sohn und seine zukünftige Schwiegertochter erblickt hatte. »Schön, dass ihr da seid!«, hatte er gesagt, während ein flüchtiges Lächeln seine Mundwinkel umspielte. Beim Betreten des Wohnhauses war ihnen dann der Gestank von unzähligen Zigaretten entgegengeschlagen, die Bento im Inneren geraucht hatte. Der kalte Rauch hatte sich in sämtliche Möbel, Tapeten und Gardinen gefressen. Bereits seit seiner Jugend war er der Nikotinsucht verfallen. Jedoch hatte Ennos Mutter stets dafür gesorgt, dass er nicht zu viel und vor allem nicht im Haus rauchte. Doch seit ihrem viel zu frühen Tod war er der quälenden Einsamkeit mit einem stetig wachsenden Zigarettenkonsum begegnet. Auch in der Küche war der unangenehme Geruch allgegenwärtig gewesen. Hedda hätte damals am liebsten auf das angebotene Stück Kuchen verzichtet, brachte es aber nicht übers Herz, Ennos Vater zu enttäuschen. Zumal er kurz zuvor extra noch erwähnte, dass er zum allerersten Mal in seinem Leben selbst gebacken hatte. 

Während sie um den kleinen Küchentisch herumgesessen, Tee getrunken und Kuchen gegessen hatten, hatte Hedda wieder einmal festgestellt, dass es eigentlich nur Bentos Beruf war, der ihn am Leben hielt. Denn wenn er überhaupt etwas erzählte, dann hatte es in der Regel nahezu ausschließlich mit den Toten zu tun, die er in den vergangenen Wochen auf ihren letzten Reisen begleitet hatte. Auch Enno beunruhigte das unglückliche Erscheinungsbild seines Vaters immer wieder. Früher war seine Mutter für ihn stets die Verbindung zu den Lebenden gewesen. Doch seit sie nicht mehr da war, hatte niemand – auch er nicht – diese Lücke füllen können. Die Einsamkeit und die ständige Konfrontation mit dem Tod hatten ihn immer sonderbarer und verschlossener werden lassen. Er würde alles tun, um seinen Vater wieder glücklich zu sehen, aber er wusste einfach nicht, wie er das anstellen sollte. Just in diesem Moment hatte Hedda einen Entschluss gefasst. Wenn es etwas gab, was ihren zukünftigen Schwiegervater vor einem depressionsbedingten Suizid oder einem tödlichen Lungenkrebs retten konnte, dann war es eine neue Frau an seiner Seite. Sie wusste noch nicht, wie sie es anstellen sollte, aber sie wusste genau, dass sie sich darum kümmern musste. Einige Minuten später stellte Enno seinen Polo vor dem Haus seines Vaters ab. »Wir sind da«, schnaufte er. Er war doch etwas besorgt, dass seinem Vater die Überraschung nicht gefallen könnte. Hedda entledigte sich ihrer Erinnerungen mit einem kaum sichtbaren Kopfschütteln. Sie merkte ihrem Mann sofort an, dass er nervös war. Wieder lehnte sie sich zu ihm hinüber und gab ihm einen Kuss. »Er wird sich freuen, vertrau mir.« »Und ich glaube, er wird sagen, dass das alles viel zu früh kommt.« Gerne hätte Hedda ihren Mann noch ein wenig mehr beruhigt, doch da Bento bereits in der Haustür stand und erwartungsfroh durch die Windschutzscheibe seinen Sohn und seine Schwiegertochter anlächelte, blieb ihr keine Zeit mehr für weitere Worte. Stattdessen tätschelte sie Enno nur aufmunternd den Oberschenkel, stieg aus und nahm ihren Schwiegervater zur Begrüßung in die Arme. Nur wenige Minuten später saßen sie am Küchentisch und tranken gemeinsam Tee. »Wir haben auch eine Überraschung für dich.« Hedda zog den Briefumschlag mit der Karte, die sie auf der Hinfahrt noch schnell im Supermarkt gekauft hatte, hervor und schob sie über den Tisch zu Bento hinüber. »Eine Überraschung?« Bento griff nach dem Umschlag und öffnete vorsichtig das Kuvert. »Aber ich habe doch gar nicht Geburtstag.« Er blickte auf und sah in das vorfreudige Gesicht seiner Schwiegertochter, bemerkte aber gleichzeitig auch den angespannten Blick seines Sohnes. Dann zog er die Karte heraus und las die Worte auf der bedruckten Vorderseite laut vor. »Dein Leben wird sich schon bald grundlegend verändern.« Wieder schaute er seine beiden Gäste fragend an. »Die eigentliche Überraschung findest du in der Karte.« Vor Aufregung presste Hedda sich die Fingerkuppen zwischen die Lippen. »Na dann.« Skeptisch klappte Bento die Karte auf. Eine Art Foto fiel, mit dem Motiv nach unten, direkt vor ihm auf die Tischplatte. Er drehte es um und betrachtete das Bild. Seine Augen weiteten sich mit jeder weiteren Sekunde ein kleines Stückchen mehr. Entgeistert legte er die Überraschung auf die Tischplatte und schaute zunächst Hedda und dann Enno an. »Ist das euer Ernst?« Enno warf seiner Frau einen Blick zu, der so viel bedeuten sollte wie ›Ich habe dir doch gleich gesagt, dass er sich nicht darüber freuen wird‹. Doch Hedda zeigte sich unbeeindruckt von den Reaktionen der beiden Männer. Sie tippte mit dem Zeigefinger auf das aufgedruckte Logo, unter dem in roten Buchstaben ›Du bist dabei!‹ geschrieben stand. »Das ist diese neue Show, von der ich dir letztens den Trailer auf meinem Handy gezeigt habe.« Sie griff nach seiner Hand. »Da kannst du endlich eine neue Frau kennenlernen.« Bento zog seine Hand weg und warf einen vorwurfsvollen, gleichzeitig aber auch hilfesuchenden Blick zu seinem Sohn hinüber. Er wusste, dass die Idee nett gemeint war, aber er wollte keine neue Frau an seiner Seite und vor allem wollte er nicht ins Fernsehen. »Die Sendung wird für einen neuen Streamingdienst aufgezeichnet«, sagte Enno, als ob er die Bedenken seines Vaters gehört hätte. »Niemand, der dich kennt, wird dich im TV sehen.« »Streamingdienst? Was ist denn das für ein Quatsch?« »Du kennst doch die Mediatheken der öffentlich-rechtlichen Sender, auf denen du dir per Knopfdruck bestimmte Sendungen zu jeder beliebigen Tageszeit ansehen kannst.« Hedda nickte zu dem kleinen Fernseher, der oberhalb des Backofens stand und der über einen USB-Stick mit dem Internet verbunden war.

Enno und sie hatten ihrem Vater das Gerät geschenkt, weil er aufgrund seines Berufes oft seine Lieblingssendungen verpasste und sie zudem befürchteten, dass er sich beim Essen in der Küche oft einsam fühlte. Bento nickte, ohne eine Miene zu verziehen. »Ein Streamingdienst ist so etwas Ähnliches, nur dass man Geld dafür bezahlen muss, damit man die angebotenen Programme anschauen kann.« »Wieso sollte ich dafür etwas bezahlen, wenn ich es doch auch umsonst bekommen kann?« Ungläubig schaute Bento seine Schwiegertochter an. Mit diesen neumodischen Angeboten konnte er nicht viel anfangen. Auch über seine Berufskollegen, die im Internet Seiten anboten, auf denen Angehörige virtuell miteinander trauern konnten, konnte er nur den Kopf schütteln. »Papa.« Enno stand von seinem Stuhl auf und setzte sich auf den freien Platz direkt neben seinem Vater. Er legte ihm die Hand auf die Schulter und schaute ihm direkt in die Augen. »Mama ist schon so lange tot und wir …«, er schaute zu seiner Frau hinüber, »… machen uns wirklich Sorgen um dich.« Eine ungewohnte Erregung durchzuckte Bentos Körper. »Ich habe euch schon oft gesagt, dass ihr euch keine Sorgen um mich machen müsst«, wurde er laut. »Und wenn ich wirklich eine Frau kennenlernen möchte, dann muss ich mich dafür nicht im TV zum Affen machen.« Hedda war in der Zwischenzeit mit ihrem Stuhl näher an ihren Schwiegervater herangerutscht, sodass er zu keiner Seite des Küchentisches einfach abhauen konnte. »Aber Bento, sei doch mal ehrlich«, sagte sie liebevoll und legte ihre Hand auf seinen Unterarm. »Du gehst eigentlich nie weg und auf deinen Beerdigungen wirst du bestimmt keine Frau fürs Leben kennenlernen.« Ennos Vater verschränkte die Arme vor der Brust, presste die Lippen aufeinander und fixierte einen Punkt in der Nähe der Küchenspüle, der so zentral gelegen war, dass er weder seinen Sohn noch seine Schwiegertochter ansehen musste. »Mama war immer deine Verbindung zu den Lebenden«, sagte Enno. »Du brauchst endlich eine neue Schnittstelle.« Bento musste an seine verstorbene Frau denken. Kurz vor ihrem Tod hatte sie etwas ganz Ähnliches zu ihm gesagt.

Ihre Worte hallten in seinem Gedächtnis wider, als habe er sie erst gestern gehört: ›Versprich mir, dass du nicht den Rest deines Lebens alleine bleibst. Du brauchst die Liebe an deiner Seite, damit du die ständige Gegenwart des Todes ertragen kannst.‹ Er wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Er hatte seiner Frau auf dem Totenbett ein Versprechen gegeben, obwohl er im selben Moment gewusst hatte, dass er es niemals einlösen wollte. Er hatte sich damals wie heute nicht vorstellen können, jemals für eine andere auch nur ansatzweise so viel zu empfinden, wie er es für seine Linda getan hatte. Beim Anblick ihres Schwiegervaters wurde Heddas Herz schwer. Sie hatte ihn noch nie weinen gesehen. War ihre Idee, ihn ohne sein Wissen bei einer Kuppelshow anzumelden, nicht doch überstürzt und vielleicht sogar egoistisch gewesen? Wollte sie Bento nur deshalb eine neue Beziehung aufzwingen, damit sie nicht immer mit einem schlechten Gewissen zu Hause saß, wenn sie und Enno mal ein ruhiges Wochenende in ihrer Wilhelmshavener Wohnung verbringen wollten? »Wenn du wirklich nicht willst, dann …« »Ich werde es machen!« Bento war selbst überrascht, wie spontan und überzeugt ihm diese Worte über die Lippen gekommen waren. Er war fest entschlossen, sein Versprechen gegenüber seiner verstorbenen Frau endlich einzulösen.