Dem Frühstücksraum des Hotels Wooger Traum war deutlich anzusehen, dass er gerade erst aufgehübscht worden war. Alles sah neu, sauber und extrem durchdacht aus. Da die übrigen Renovierungsarbeiten jedoch noch nicht vollständig abgeschlossen waren, hatte das Gasthaus eigentlich noch gar nicht für Touristen geöffnet. Lediglich den intensiven Bemühungen seiner Sekretärin sowie seinem scheinbar grenzenlosen Geldbeutel hatte Wolfgang Afflerbach es zu verdanken, dass er und seine Gäste an seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag das ganze Gebäude für sich allein hatten.
Der vermögende Unternehmer saß am Kopfende des Tisches. Zu seiner Rechten hatten sein Bruder Michael, dessen Frau Claudia und zwei seiner Abteilungsleiter Platz genommen. Links von ihm saßen seine Cousine Angelika und deren Mann Georg sowie zwei weitere Führungskräfte der VHWA GmbH. Alle taten so, als wären sie mit ihrem Tee, Kaffee oder Frühstücksbrötchen beschäftigt. Doch Wolfgang spürte die erwartungsvollen Blicke, die ihm immer wieder zugeworfen wurden. Trotzdem wollte er seine Entscheidung nicht verkünden, solange Markus, sein einziger Sohn, nicht anwesend war. Aber dessen Stuhl am anderen Ende des Tisches war noch immer leer.
»Hat einer von euch meinen Sohn gesehen?«, fragte er daher schließlich in die Runde.
»Der hat gestern Abend so viel getrunken, der liegt sicher noch im Bett«, sagte sein Bruder Michael und gab sich dabei wenig Mühe, seine Abneigung gegenüber dem Verhalten des Fünfzigjährigen zu verbergen.
»Nun ja, da war er nicht der Einzige«, gab sich Wolfgang versöhnlich. Unbewusst schaute er dabei zu Claudia, der Frau seines Bruders, hinüber.
»Das stimmt«, gab Michael zu. »Aber alle anderen haben zumindest so viel Selbstkontrolle, dass sie pünktlich zum vereinbarten Brunch hier erschienen sind.« Bestätigung suchend schaute er in die Runde. Abgesehen von seiner Frau schauten aber alle nur betreten auf ihre Teller.
Wolfgang griff sich an die pochende Schläfe. Er hatte höllische Kopfschmerzen und fühlte sich auch sonst nicht wohl. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte er sein Unwohlsein dem Alkohol zugeschrieben. Doch sein letzter Drink lag bereits Jahrzehnte zurück. Er fragte sich, ob man ihm gestern versehentlich doch keinen alkoholfreien Sekt zum Anstoßen hingestellt hatte. »Wäre jemand so freundlich und würde nachsehen, wo er bleibt?«
»Ist das denn wirklich notwendig?«, platzte es aus Claudia heraus, die jedoch noch im selben Moment bemerkte, dass ihr Tonfall vielleicht ein wenig zu abschätzig war. »Ich meine …«, korrigierte sie die Schärfe in ihrer Stimme, »… spielt er denn nach allem, was gestern und heute passiert ist, tatsächlich noch eine Rolle in deinen Überlegungen?«
Nachdenklich schaute Wolfgang seine Schwägerin an. Er wusste genau, worauf sie hinauswollte, und konnte ihrer Einschätzung zu seinem Leidwesen auch nicht vollkommen widersprechen. Aber so, wie sie es anscheinend erwartete, würde es auch nicht laufen. »Wenn ich gleich die vielleicht wichtigste Entscheidung meines Lebens verkünde, dann möchte ich, dass meine ganze Familie anwesend ist.« Reflexartig schlug er mit der Faust auf den Tisch, sodass einige seiner Gäste erschrocken zusammenzuckten. Auch wenn sie am vergangenen Abend einen ganz anderen Wolfgang Afflerbach erlebt hatten, schien der alte doch noch nicht vollständig verschwunden zu sein.
»Ich gehe nachsehen«, sagte Georg und erhob sich von seinem Platz.
Dankbar nickte das Geburtstagskind dem Mann seiner Cousine zu.
Zügig ging Georg die Stufen zum ersten Stockwerk hinauf. Eigentlich waren seine Frau und er ohne große Erwartungen zu der Geburtstagsfeier angereist, aber die Gespräche, die die beiden mit dem Jubilar geführt hatten, hatten sie dann doch hoffnungsvoll gestimmt. Dementsprechend brannte er darauf, endlich die Entscheidung zu hören, die für den oder die Begünstigte mit absoluter Sicherheit lebensverändernde Konsequenzen haben würde.
Vor dem Zimmer mit der Nummer Sechzehn blieb er stehen, klopfte und wartete einige Sekunden. Nachdem keinerlei Reaktion aus dem Raum zu hören war, klopfte er erneut. Dieses Mal jedoch etwas lauter. »Markus, bist du da?«
Irritiert ging er zurück ins Foyer und wandte sich an die Dame an der Rezeption. »Entschuldigen Sie bitte, können Sie mir vielleicht sagen, ob der Gast aus Nummer Sechzehn bereits abgereist ist?« Neben der Annahme, dass Wolfgangs Sohn noch volltrunken im Bett lag, konnte er sich auch vorstellen, dass dieser beleidigt einfach abgereist war. Vielleicht hatte ihn sein Vater ja bereits vorab über seine Entscheidung informiert oder aber er hatte auf einem anderen Wege davon erfahren, nicht der Auserwählte zu sein.
Die junge Hotelmitarbeiterin wischte sich eine Strähne ihrer schulterlangen blonden Haare hinter das Ohr und schaute in einem großen Buch nach, in dem alle Reservierungen standen. Da aufgrund der laufenden Renovierungsarbeiten nur die Familie Afflerbach im Hotel übernachtete, dauerte es nicht lange. »Es tut mir sehr leid, aber vermerkt ist hier nichts.« Unsicher schaute sie ihn an und ließ dabei ihren Zeigefinger durch die Luft kreisen. »Gehören Sie nicht alle zu der Geburtstagsfeier?«
Georg nickte bestätigend. »Ja, aber die gesuchte Person ist nicht zum vereinbarten Brunch erschienen und daher haben wir uns Sorgen gemacht.«
»Das verstehe ich.« Die Hotelangestellte schaute auf ihre Armbanduhr. »Wenn Sie wollen, können wir kurz in seinem Zimmer nachsehen. Ich wollte ohnehin gleich mit der Reinigung der belegten Räume beginnen.«
Auf Georgs Stirn bildeten sich Falten. »Sie sind gleichzeitig für die Rezeption und die Reinigung der Zimmer zuständig? Der Fachkräftemangel ist wohl auch auf Wangerooge angekommen.«
Die junge Frau lachte verlegen. »Das auf jeden Fall«, sagte sie. »Aber dass ich heute beides mache, hat einfach nur damit zu tun, dass Sie und Ihre Familie derzeit unsere einzigen Gäste sind. Offiziell haben wir ja noch geschlossen.« Sie zeigte auf eine Ecke der Lobby, in der ein Maler gerade durchsichtige Folie auslegte.
Gemeinsam gingen die beiden zurück zu Markus’ Zimmer. Dort angekommen klopfte die Hotelangestellte zaghaft an die Tür. »Zimmerservice!«
Keine Reaktion.
Dann zückte sie eine weiße Plastikkarte aus ihrer Gesäßtasche und hielt sie vor den entsprechenden Sensor. Ein mechanisches Brummen ertönte, wonach sich die Klinke herunterpressen ließ. Vorsichtig drückte sie die Tür auf und steckte ihren Kopf durch den schmalen Spalt. Als sie Füße am Bettende entdeckte, drehte sie sich zu Georg um. »Er scheint noch zu schlafen«, flüsterte sie ihm zu.
Verärgert stieß Georg die Tür komplett auf und drückte sich an der jungen Frau vorbei. »Wir sitzen alle unten und warten auf dich und du schläfst hier deinen Rausch aus!«, schrie er verärgert. Doch als er das Fußende des Bettes erreichte und dadurch volle Sicht auf das Schlafmöbel hatte, versagte ihm schlagartig die Stimme.
Bewegungsunfähig stand er da und schaute auf Markus’ leblosen, vollkommen nackten Körper hinab. Er lag auf dem Rücken. Sein Gesicht war blutverschmiert und deformiert. Sein Kissen, die Kopfstütze sowie der Lampenschirm der Nachtlampe hatten sich mehr oder weniger rot verfärbt. Selbst an der Tapete sowie auf dem Teppich fanden sich Spritzer der lebensnotwendigen Flüssigkeit.
»Ist alles in Ordnung?« Die Hotelangestellte bemerkte sofort, dass irgendetwas nicht stimmte, und ging auf ihren Gast zu, um ihm helfen zu können.
Doch kurz bevor sie ihn erreichte und somit ebenfalls einen Blick auf die übel zugerichtete Leiche werfen konnte, gewann Georg die Kontrolle über seinen Körper zurück. »Halt!«, rief er energisch und streckte ihr die flache Hand entgegen. »Gehen Sie keinen Schritt weiter!«
»Was ist denn los? Ist er …«
»Rufen Sie bitte sofort die Polizei«, fiel Georg ihr ins Wort.
***
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