1. Kapitel

 

*** Dienstag ***

 

Hinter Annalena lag ein langer Tag voller neuer Eindrücke. Direkt nach dem Schreibkurs hatte sie sich mit ihrer Frau Laureen und ihrer Tochter Clara am Strand getroffen, um wenigstens ein paar Stunden mit der Liebe ihres Lebens und ihrem kleinen Sonnenschein zu verbringen. Da die beiden im Hotel wohnten, während sie, wie alle anderen Teilnehmer auch, in der Jugendherberge im Westturm untergebracht war, konnte sie ihre Liebsten immer nur nach Beendigung des Tagesprogramms sehen. Nachdem die beiden Frauen die Vierjährige gemeinsam ins Bett gebracht hatten, war Annalena zunächst zurück zu ihrer Unterkunft geradelt, um dort ihre Hausaufgabe für den morgigen Tag zu erledigen, die ihr die Kursleiterin am Nachmittag aufgegeben hatte. Als sie Zettel und Stift endlich zur Seite legen konnte, war es bereits zweiundzwanzig Uhr. Sie hatte nicht nur deutlich länger gebraucht, als sie ursprünglich gedacht hatte, die Aufgabe hatte sich zudem als wahre Herausforderung für ihr Nervenkostüm herausgestellt. Sie ging ins Bad, putzte sich die Zähne und entfernte sich die Kontaktlinsen. Je länger sie die unscheinbaren Sehhilfen trug, umso mehr brannten ihr am Abend die Augen. Eigentlich kam sie auch ohne einigermaßen zurecht, aber da sie beim Schreibkurs natürlich viel lesen musste und für eine Brille einfach zu eitel war, hatte sie sich die nahezu unsichtbaren Helferlein bereits am frühen Morgen auf die Pupillen gesetzt. Sie legte sich ins Bett und zog sich die Decke bis zum Hals. Doch sie war noch so aufgewühlt von der Hausaufgabe, dass an Schlaf noch gar nicht zu denken war. Deshalb entschloss sie sich, trotz der nächtlichen Dunkelheit noch einen Spaziergang an der Strandpromenade zu machen. Sie hoffte, dass die frische Luft sowie das monotone Meeresrauschen die düsteren Gedanken aus ihrem Kopf verbannen würden. Darum schälte sie sich wieder aus dem Bett, zog sich schnell etwas über und schlich leise nach draußen, um die Nachtruhe der bereits schlafenden Jugendherbergsgäste nicht zu stören. Mit dem Fahrrad brauchte Annalena gerade einmal zehn Minuten, um vom Westturm, dem Wahrzeichen der Ostfriesischen Insel Wangerooge, zum Strand zu gelangen. Nachdem sie ihr geliehenes  E-Bike vor dem Surf-Café abgestellt und abgeschlossen hatte, schlenderte sie die nahezu menschenleere Promenade entlang. Direkt hinter dem Café Pudding, das um diese Uhrzeit schon geschlossen hatte, entdeckte sie das leuchtende Ziffernblatt der Puddinguhr. Ihre Kursleiterin Mena Bleeker hatte ihnen am Vormittag von der denkmalgeschützten Uhr mit dem Windmesser in Schiffsform erzählt, die aus verschiedenen gebrauchten Teilen erbaut worden war, weshalb sie diese als Sinnbild für eine potentielle Patchwork-Arbeit der Gruppe verwendet hatte. Annalena musste schmunzeln, als ihr Menas Worte erneut durch den Kopf gingen: Seit einer größeren Reparatur wird die Puddinguhr von der Atomuhr in Frankfurt gesteuert und geht damit maximal eine Zehntelmillisekunde nach. Das finde ich jedoch vertretbar, wenn man bedenkt, dass die meisten Menschen, die von ihr die Zeit ablesen, sich gerade im Urlaub befinden. Es ist fast Mitternacht, stellte Annalena fest, als sie einen Blick auf die großen schwarzen Zeiger warf. Ich sollte auch langsam ins Bett. Der morgige Tag wird sicher anstrengend. Sie machte auf der Stelle kehrt, um zurück zu ihrem Fahrrad zu gehen. Auch wenn sie noch nicht wirklich müde war, so hatte ihr der nächtliche Spaziergang doch auf jeden Fall gutgetan. Sobald ich wieder in meinem Zimmer bin, kann ich bestimmt schlafen, war sie sich sicher. Doch kaum war sie ein paar Meter gegangen, hörte sie Schritte. Sie drehte sich um und entdeckte im Licht der Laterne eine Gestalt, die sich einige Meter hinter ihr befand. Bestimmt nur ein Spaziergänger, beruhigte sie sich und ging weiter. Dennoch schlug ihr schon bald das Herz bis zum Hals. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, zu so später Zeit ganz alleine umherzulaufen? Der Gedanke daran, dass sie mit dem Rad ja auch noch den einsamen und dunklen Weg zum Westturm zurückfahren musste, verstärkte ihr Unwohlsein noch einmal deutlich. Sie überlegte, schneller zu gehen, entschied sich dann aber, vor dem Upstalsboom Aparthotel stehen zu bleiben. Sollte die Person nicht – wie gehofft – an ihr vorbeigehen, würde ihr lautstarker Hilferuf hier wenigstens nicht ungehört verhallen. Annalena zückte ihr Handy und tat so, als würde sie gerade einen Anruf entgegennehmen. Während der nächtliche Schatten in unverändertem Tempo auf sie zukam, schaute sie ihm direkt ins Gesicht.  Er sollte wenigstens das Gefühl haben, dass sie keine Angst vor ihm hatte. Doch als die Gestalt sie scheinbar gerade passieren wollte, blieb sie abrupt und vollkommen unerwartet direkt vor ihr stehen. Zu diesem Zeitpunkt ahnten jedoch beide noch nicht, dass sie sich bereits kurz darauf als Mörder und Opfer voneinander verabschieden würden.

 

*** Mittwoch ***

 

Als Hauptkommissar Onno Renken abrupt aufwachte und einen Blick auf die Digitaluhr auf seinem Nachttisch warf, traute er seinen Augen nicht. »Welcher Idiot klingelt denn bitte schon um Viertel vor sechs an fremden Haustüren?«, sprach seine Frau Jantje aus, was auch ihm durch den Kopf geschossen war. »Der weckt noch die Kinder auf.« Onno sprang aus dem Bett und eilte zur Tür. Emma und Finn schienen trotz der frühmorgendlichen Ruhestörung noch zu schlafen. Da seine pubertierende Tochter vor einigen Monaten aber sogar vom Fehlalarm des Rauchmelders, der direkt an ihrer Zimmerdecke hing, nicht wach geworden war, wunderte ihn das nicht wirklich. Energisch riss er die Haustür auf. »Was …«, wollte er losschimpfen, doch als er Tjark Pankok erkannte, wusste er sofort, dass etwas Schlimmes geschehen sein musste. »Tjark, ist etwas passiert?« Wut und Verärgerung in seiner Stimme waren vollständig einer echten Besorgnis gewichen. Nach einer missglückten Hüftoperation konnte sich der über Achtzigjährige nur noch mithilfe eines Gehstocks fortbewegen. Einen korrigierenden Eingriff lehnte er trotz guten Zuredens der Ärzte ab, da ihm seine verstorbene Frau Stina im Traum erschienen war und ihn vor einem weiteren operativen Eingriff gewarnt hatte. Direkt neben ihm saß Dackel Otto, den er kurz nach dem Tod seiner Frau von seinen Kindern geschenkt bekommen hatte. »Du musst sofort mitkommen«, sagte er mit zittriger Stimme. Onno sah an sich hinab. »Ich muss mich noch schnell umziehen. Bin in ein paar Minuten wieder bei dir«, sagte er und schloss die Tür. Er war sich sicher, wenn Tjark ihn zu dieser frühen Uhrzeit darum bat, sofort mit ihm zu kommen, dann hatte er einen guten Grund dafür.  Im Badezimmer warf er einen erschrockenen Blick in den Spiegel. Direkt nach dem Aufstehen sah er nicht wie Mitte vierzig, sondern eher wie Ende fünfzig aus. Seine kurzen braunen Haare standen zu allen Seiten ab. Da er keine Zeit verschwenden wollte, verzichtete er darauf, sein Haupthaar mit Gel in Form zu bringen, sondern versteckte das Chaos inklusive der kahlen Stelle am Hinterkopf einfach unter seiner Dienstmütze. Mit den Händen schaufelte er sich kaltes Wasser ins Gesicht und zupfte sich noch schnell ein langes Haar aus seinem Bart, welches das gestrige Trimmen irgendwie unbeschadet überlebt haben musste. Nachdem er sich hastig seine Dienstuniform übergeworfen und mit ein paar erklärenden Worten von Jantje verabschiedet hatte, verließ er das Haus. »Wo müssen wir hin?«, fragte er den Rentner, der gemeinsam mit seinem Hund vor der Tür gewartet hatte. »Zum Hauptstrand.« Tjark setzte sich in Bewegung. Trotz seiner Gehhilfe war er erstaunlich schnell unterwegs. »Was ist denn passiert?«, wollte Onno von ihm wissen. »Du weißt doch, dass ich immer um Punkt 5:00 Uhr aufwache und dann mit Otto die erste Runde drehe, weil ich nicht mehr einschlafen kann.« Onno nickte. Jeder auf Wangerooge wusste, dass Tjark seit dem Tag, an dem seine Frau genau um diese Uhrzeit ihren letzten Atemzug gemacht hatte, immer zu exakt dieser Zeit aufwachte. »Und du weißt auch, dass Otto für einen Dackel eigentlich erstaunlich gut hört und mir nur dann abhaut, wenn er irgendein anderes Tier oder so wittert?« Wieder nickte Onno. »Otto ist mir heute früh urplötzlich abgehauen und zwischen den Strandkörben verschwunden. Das hat er an dieser Stelle unseres Spaziergangs noch nie getan.« »Aber deshalb hast du mich jetzt nicht geweckt, oder?« »Ik bin doch neet töffelig!« »Das habe ich auch nicht behauptet«, entgegnete Onno. »Hast du das verstanden?«, fragte Tjark überrascht. Wie viele andere Insulaner glaubte auch er, dass ihr Hauptkommissar, der sich erst vor einigen Jahren von Hannover auf die Ostfriesische Insel hatte versetzen lassen, die plattdeutsche Sprache nicht beherrschte. »Ein paar einfache Sätze verstehe ich mittlerweile«, log Onno. Als gebürtiger Emder verstand er die Sprache eigentlich sogar sehr gut, 9 da seine Eltern und Großeltern hauptsächlich Platt miteinander gesprochen hatten. Da er aber manchmal das Gefühl hatte, dass die Insulaner in seiner Gegenwart gelegentlich absichtlich kein Hochdeutsch sprachen, wenn er etwas nicht mitbekommen sollte, ließ er sie gerne in ihrem Glauben, er verstände so gut wie kein Wort der ostfriesischen Nationalsprache. »Also nun sag schon«, lenkte er daher schnell ab. »Warum hast du mich wirklich aus dem Bett geklingelt?« Tjark schluckte, nahm seinen Gehstock wieder in die Hand und beschleunigte das Tempo. »Nachdem Otto von seinem ersten Alleingang zurückgekommen ist, sind wir noch ein paar Meter gemeinsam an der Promenade entlanggegangen. Doch nur eine Minute darauf ist er erneut unruhig geworden, davongewetzt und wieder zwischen den Strandkörben verschwunden. Doch dieses Mal kam er nicht zurück.« »Er kam nicht zurück?«, fragte Onno irritiert nach und schaute dabei auf den Vierbeiner, der brav neben seinem Herrchen hertrottete. »Er kam nicht zu mir zurück, wie er es nach seinen Alleingängen sonst immer tat«, konkretisierte Tjark. »Ich habe vom Strand her nur sein Bellen gehört.« »Und dann?« »Ich habe ihn mehrfach gerufen, aber Otto kam und kam einfach nicht. Da habe ich mich auf den Weg zu ihm gemacht und …« Tjarks Stimme stockte. Es war ihm anzusehen, dass er das Erlebte nur schwer in Worte fassen konnte. »In einem der Strandkörbe saß eine Leiche«, platzte es schließlich doch aus ihm heraus. »Eine Leiche? Bist du dir sicher?« »Ich habe in meinem Leben schon mehr Leichen gesehen als du«, reagierte der Rentner verschnupft. Onno ignorierte seinen beleidigten Unterton und verzichtete ebenso darauf, mit Tjark darüber zu diskutieren, ob er allein durch seinen Beruf nicht doch schon mehr Tote zu Gesicht bekommen hatte als er. Für ihn war jetzt nur eine Sache wichtig. »Glaubst du, es war ein natürlicher Tod?« »Ich bin ja kein Arzt, aber die junge Frau sah wahrlich nicht so aus, als habe der Herrgott sie zu sich gerufen.« Onno seufzte. »Das klingt nicht gut.« Er zückte sein Smartphone und drückte auf das Icon, unter dem er die Nummer seiner Partnerin abgespeichert hatte.  Es klingelte nur drei Male, ehe Oberkommissarin Theda Saathoff das Gespräch entgegennahm. »Guten Morgen«, begrüßte sie ihn gutgelaunt. Überrascht schaute Onno auf seine Armbanduhr. Es war gerade erst kurz nach sechs. Wie konnte sie zu dieser Uhrzeit nur schon so gut drauf sein? »Entschuldige die frühe Störung, aber ich wurde gerade von Tjark Pankok aus dem Bett geklingelt. Er und sein Dackel haben am Strand die Leiche einer jungen Frau gefunden.« Bei Theda wurden sofort Erinnerungen an ihren ersten Arbeitstag auf Wangerooge wach. Damals wurde am Ostende der Insel ebenfalls die Leiche einer jungen Frau entdeckt. »Schon wieder ein Mord?«, fragte sie, klang dabei aber nicht besorgt, sondern eher aufgeregt. Denn im Gegensatz zu ihrem Partner, der sich bewusst von der Großstadt auf die beschauliche Ostfriesische Insel hatte versetzen lassen, um die Gefahr seines Berufes zu reduzieren, hatte sie sich nur auf den vakanten Posten auf Wangerooge beworben, weil man ihr dadurch eine schnellere Beförderung in Aussicht gestellt hatte. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie es jeden Tag mit Kapitalverbrechen zu tun haben können. »Kann ich dir noch nicht sagen«, antwortete Onno auf ihre Frage. »Aber Tjark meint, für ihn habe es nicht nach einem natürlichen Tod ausgesehen.« »Ich bin gleich bei euch«, sagte Theda aufgeregt. »Wo genau muss ich hin?« Onno hielt das Mikrofon zu und richtete sich an Tjark. »Wo genau hast du die Leiche gefunden?« »Irgendwo zwischen dem Strandhotel Gerken und dem Gästehaus Germania. Genauer kann ich es leider nicht sagen, aber Otto findet die Stelle sofort wieder, wenn wir dort sind.« Als ob er seinem Herrchen recht geben wollte, bellte der Dackel einmal kurz auf. Onno gab diese Information an seine Partnerin weiter. Nur wenige Minuten später konnte der Vierbeiner das in ihn gesetzte Vertrauen rechtfertigen. Kaum hatten sie das Café Pudding entlang der unteren Strandpromenade passiert, gab es für ihn kein Halten mehr. Laut kläffend rannte er über den Sand und im ZickZack-Kurs durch die Strandkörbe, ehe er vor einem der blau-weiß gestreiften Modelle zum Stehen kam.  Kurz darauf erreichte auch Onno das wetterfeste Sitzmöbel. Darin fand er eine junge Frau, deren Oberkörper zur Seite gerutscht war. Obwohl er direkt vor ihr stand, schienen ihre leblosen braunen Augen durch ihn hindurch zu starren. Ihr Gesicht wirkte unnatürlich entstellt, so als habe sich ihr Schönheitsarzt beim Lippenauf- und Faltenwegspritzen bei der Dosierung vertan. Dabei war er sich sicher, dass sie zu Lebzeiten eine wahre Schönheit gewesen war. Die Bräune ihrer Haut wirkte natürlich, so als wäre sie nicht im kühlen Norden der Erdhalbkugel geboren. Ihre langen braunen Haare reichten ihr bis über die Schultern und ihr Körperbau hatte nur an den Stellen Rundungen vorzuweisen, an denen diese allgemein als attraktiv angesehen wurden. »Was ist das?« Onno zog sich Handschuhe über und griff nach dem metallischen Behälter, der neben dem Strandkorb im Sand lag. »Eine geöffnete Dose Erdnüsse«, stellte er überrascht fest. »Anscheinend hat sich die junge Frau etwas zu knabbern mit an den Strand genommen.« »Da ist noch etwas!« Tjark, der inzwischen auch den Strandkorb erreicht hatte, zeigte auf die blau-weiß gestreifte Sitzfläche. »Scheint ein zusammengefalteter Zettel zu sein.« Ganz vorsichtig fischte Onno diesen aus dem schmalen Zwischenraum zwischen Körper und Strandkorb, faltete ihn auseinander und las den handgeschriebenen Brief:

 

Liebe Laureen,

diese Zeilen zu Papier zu bringen, ist mit Abstand das Schwierigste, was ich je machen musste. Denn ich weiß genau, egal wie gut ich euch die Gründe für meine endgültige und unumkehrbare Entscheidung darlege, du wirst sie nie vollständig verstehen. Schlimmer noch, du wirst dir Vorwürfe machen. Du wirst dich fragen, ob du etwas hättest bemerken können oder ob du etwas hättest anders machen können. Vielleicht wirst du mich auch hassen, weil ich dir keine Chance gegeben habe. Weil ich gegangen bin, ohne dass du auch nur erahnen konntest, welch düstere Gedanken mich schon seit Jahren plagen. Bevor ich in den folgenden Zeilen dennoch versuchen werde, dir einen Einblick in mein tiefschwarzes Inneres zu geben, möchte ich dir einige Dinge ganz deutlich sagen: DU HAST NICHTS FALSCH GEMACHT!  DU HÄTTEST ES NICHT VERHINDERN KÖNNEN! DU HÄTTEST ES NICHT EINMAL AHNEN KÖNNEN! Du weißt, wie gerne ich Theater gespielt habe und dass ich insgeheim immer davon geträumt habe, eines Tages von Hollywood entdeckt zu werden. Doch seit knapp drei Jahren spiele ich eine Rolle, die ich niemals haben wollte. Eine Rolle, die mir in dem Moment meines Lebens zugedacht wurde, der eigentlich mein glücklichster sein sollte: Claras Geburt. Zuerst hielten wir es für einen Babyblues, dann diagnostizierten die Ärzte eine Wochenbettdepression und verordneten mir Gesprächsund Verhaltenstherapien. Einige Monate könne dieser Zustand anhalten, selten auch länger, hatten sie zu uns gesagt. Das kriegen wir schon wieder in den Griff, haben sie uns Mut gemacht. Doch nach einem Jahr fühlte ich mich noch immer kein Stück besser. Der Weisheit letzter Schluss: Antidepressiva. Ich habe dich glauben lassen, die Psychopharmaka hätten nach wenigen Wochen angeschlagen und zu meiner vollständigen Genesung geführt. Doch in Wirklichkeit habe ich dieses Gift nie eingenommen. Ich wollte es alleine schaffen. Ich dachte, wenn ich nur so tue, als wäre alles okay, wird es das irgendwann auch. Doch jetzt sind meine Kräfte aufgezehrt und obwohl ich weiß, dass ich dich und unsere gemeinsame Tochter über alles liebe, wünsche ich mir nur noch für immer und ewig zu schlafen. Pass gut auf unseren kleinen Engel auf! Ich weiß, dass Clara sich keine bessere Mutter als dich wünschen kann. Vielleicht findest du in ein paar Jahren die Kraft, mir zu verzeihen und Clara, sofern sie alt genug dafür ist, zu erklären, welch schreckliche Krankheit ihre Mama zum Äußersten getrieben hat. Ich hoffe, wir sehen uns im nächsten Leben wieder.

Ich liebe euch! Annalena

 

»Was steht drin?«, wollte Tjark wissen. Im selben Augenblick stieß Oberkommissarin Saathoff zu den beiden Männern. »Eine Leiche im Strandkorb«, kam sie gleich zur Sache. »Und ich dachte immer, so etwas passiert nur in irgendwelchen Ostfrieslandkrimis.« Angesichts des traurigen Umstands gefiel Onno der aufgeregte Tonfall ihrer Stimme überhaupt nicht. Zeitgleich wunderte er sich, wie seine jüngere Kollegin es geschafft hatte, trotz des unplanmäßigen Dienstbeginns so auszusehen, als habe sie sich für ein Polizeibankett herausgeputzt. Ihre langen blonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ein dezentes Make-up unterstrich die ebenmäßige Schönheit ihres Gesichtes. Ihre vollen, geschwungenen Lippen wurden durch einen transparenten Lipgloss betont. »Ich muss dich leider enttäuschen, aber wir haben es hier mit keinem Mord zu tun.« Überrascht kräuselte sich Thedas Nase. Sie warf einen prüfenden Blick auf die Tote. »Bist du dir sicher?« Onno wedelte mit dem Zettel, den er bei der Leiche gefunden hatte. »Neben der Toten lag ein Abschiedsbrief.« »Verdammt!«, fluchte Theda. Die vergangenen Wochen auf Wangerooge waren ihr eindeutig zu langweilig gewesen. Ein spektakulärer Mordfall hätte ihr daher ganz gut in den Kram gepasst. »Bitte!«, flehte sie ihren Partner an. »Können wir den Brief nicht einfach verschwinden lassen und zumindest ein paar Tage lang so tun, als würden wir einen Mörder jagen?« »Reiß dich zusammen!«, wurde Onno ernst und erinnerte seine Kollegin mit einem dezenten Seitenblick daran, dass sie nicht alleine waren. »Schon gut«, seufzte Theda. »Dann darf ich mich aber um den Spanner kümmern, okay?« »Spanner?«, wurde Tjark hellhörig. »Ist in meinem kleinen Paradies etwa ein Perverser unterwegs?« Theda musste lächeln, als sie daran dachte, was der Witwer einmal zu ihr gesagt hatte. Er meinte, er wünsche sich nichts mehr, als die Ewigkeit mit seiner Stina im Jenseits zu verbringen. Aber er liebe sein Wangerooge so sehr, dass er dennoch jede mögliche Sekunde in seinem kleinen Paradies verbringen wolle. »Gestern wurde uns gemeldet, dass ein Mann mit Fernglas am FKK-Strand gesichtet wurde«, klärte sie ihn auf. »Nichts Spektakuläres, aber immer noch aufregender als alles andere, was hier in den letzten Monaten vorgefallen ist.« Tjark grinste. »Ji fangt stillweg blot Müggen.« »Was soll das denn bedeuten?« Im Gegensatz zu Onno verstand die gebürtige Jeveranerin kaum Platt. »Das ist ein plattdeutsches Sprichwort. Wörtlich übersetzt bedeutet es, dass ihr den ganzen Tag nur Mücken fangt. Man verwendet es, wenn man damit ausdrücken möchte, dass jemand Langeweile hat.«  Jetzt musste auch Theda lachen. »Damit hast du den Nagel auf den Kopf getroffen.« In ihren ersten Tagen auf Wangerooge hatte sie noch Schwierigkeiten damit gehabt, dass fast alle auf der Insel sich duzten. Doch seit die Oberkommissarin einfach dazu übergegangen war, das förmliche ›Sie‹ aus ihrem Sprachgebrauch zu streichen, fühlte sie sich neben ihrem Partner deutlich weniger unwohl. »Aber mal was anderes.« Tjarks Augen funkelten auf einmal außergewöhnlich neugierig. »Seit wann hat Wangerooge einen NackedeiStrand?« Bei der Vorstellung, dass der Rentner sich mit Hund und Gehstock gleich auf den Weg machen würde, um die Sache in Augenschein zu nehmen, musste Theda grinsen. »Offiziell haben wir auch keinen. Aber eine Urlaubsgruppe von Nudisten hat einen abgelegenen Strandabschnitt quasi gekapert. Und da sich noch keiner aufgeregt hat – mit Ausnahme der Nacktbader selbst –, haben wir da bisher beide Augen zugedrückt.« »Ich sag doch immer, mein Wooge ist ein Paradies«, grinste er. »Und wo genau ist jetzt dieses himmlische Stück Strand?« »Wenn ich dir das verrate, habe ich morgen den nächsten Spanner, den ich verhaften soll«, lachte Theda. »Wir müssen herausfinden, wer die Tote ist, und die Angehörigen informieren«, versuchte Onno die beiden an den Ernst der Lage zu erinnern. »Außerdem muss der Leichnam hier weg. Schon bald kommen die ersten Touristen an den Strand.« »Ich kümmere mich darum«, sagte Theda. Sie griff zu ihrem Handy, tippte auf dem Display herum, hielt es sich ans Ohr und entfernte sich ein paar Schritte. »Geh du ruhig mit Otto nach Hause und seht zu, dass ihr den Schock verdaut.« Aufmunternd klopfte Onno dem alten Mann auf die Schulter. »Wir kümmern uns um alles Weitere.« Dann ging er zu einem der benachbarten Strandkörbe und zog ihn über den Sand, sodass er letztendlich eine Art Sichtschutz vor dem Fundort der Leiche bildete.

 

***

 

Als Theda auf die Polizeiwache zurückkehrte, saß Onno bereits an seinem Schreibtisch und schrieb einen Bericht über den frühmorgendlichen Leichenfund. »Wir haben bei der Toten leider keine Ausweispapiere gefunden, aber einige Meter entfernt haben wir ein Handy im Sand entdeckt. Ist natürlich gesperrt, aber vielleicht gehört es ja ihr.« Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, deutete das Display einen eingehenden Anruf an. »Laureen ruft an«, teilte sie aufgeregt die überraschende Neuigkeit mit ihrem Partner. Den Namen kenne ich doch aus dem Abschiedsbrief, schoss es Onno durch den Kopf. Mit hektischen Handbewegungen signalisierte er ihr, dass sie das Gespräch annehmen sollte. »Polizeistation Wangerooge, Oberkommissarin Saathoff am Apparat.« Am anderen Ende der Leitung hörte sie nur ein leises Atemgeräusch. »Hallo? Können Sie mich verstehen?«, fragte Theda daher nach. »Mami«, ertönte die Stimme eines Kindes am anderen Ende der Leitung. Theda war sich nicht sicher, ob es sie für ihre Mutter hielt oder ob es nach ihrer Mutter rief, weil eine fremde Frau das Gespräch entgegengenommen hatte. »Guten Morgen, mein Schatz«, übernahm eine erwachsene Stimme das Telefonat. »Entschuldige bitte die Störung, aber Clara ist unruhig geworden, nachdem du dich nach dem Frühstück nicht bei uns gemeldet hast. Du fehlst ihr. Ich meine, du fehlst uns.« Theda hatte plötzlich einen dicken Kloß im Hals. Sie dachte an den Abschiedsbrief, den sie bei der Leiche im Strandkorb gefunden hatten. Das muss die Partnerin der toten Annalena sein, war sie sich sicher. Aber warum wunderte sie sich nicht, dass ihre Lebensgefährtin am Morgen nicht neben ihr im Bett gelegen hatte? Und warum vermisste Clara nach dem Frühstück eine Nachricht von ihrer Mutter? »Hier spricht Oberkommissarin Saathoff von der Polizeistation Wangerooge«, stellte sie noch einmal klar. »Mit wem spreche ich bitte?« Wieder verstummte die Leitung für einen Moment. Doch im Gegensatz zu Clara reichte Laureen das Telefon nicht weiter, sondern fand relativ schnell ihre Sprache wieder. »Hier spricht Laureen Münkenwarf. Ich bin die Ehefrau von Annalena Zimmer. Wieso haben Sie ihr Handy? Hat sie es verloren?« Annalena Zimmer. Jetzt hatte die Tote also endlich einen vollständigen Namen. Doch dem Klang ihrer Stimme nach zu urteilen, schien Laureen noch nicht zu ahnen, welch dramatische Neuigkeit auf sie wartete. »Frau Münkenwarf«, schlug Theda daher einen ernsten Ton an. »Sie sollten sich vielleicht erst einmal hinsetzen.«  Jetzt schien auch Annalenas Ehefrau zu begreifen, dass das Handy nicht nur als Fundstück bei der Polizei abgegeben worden war. »Ich … ich sitze auf dem Fußboden. Ich habe gerade mit Clara TierMemory gespielt, als sie unbedingt mein Handy wollte, um ihre Mama anzurufen.« Sie klang jetzt so, als wäre sie plötzlich ganz weit weg. »Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Frau vor wenigen Stunden tot aufgefunden wurde.« Theda wartete auf eine Reaktion. Als diese jedoch ausblieb, fragte sie sicherheitshalber noch einmal nach. »Haben Sie verstanden, was ich gerade gesagt habe?« »Annalena ist …« Theda konnte sich gut vorstellen, dass Laureen das letzte Wort bewusst heruntergeschluckt hatte, damit Clara es nicht hören konnte. »Leider ja«, bestätigte sie. Im Hintergrund hörte sie wieder die Kinderstimme nach ihrer Mama fragen. Sie konnte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie schwer es sein musste, jetzt die richtigen Worte zu finden. »Die Mama kann jetzt leider nicht telefonieren«, hörte sie Laureen sagen. Ihre Stimme zitterte, aber sie brach nicht. »Wie ist das passiert?«, richtete sich Annalenas Frau jetzt wieder an die Oberkommissarin. Theda schluckte. »Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Frau sich allem Anschein nach das Leben genommen hat.« Merkwürdigerweise kam der jungen Polizistin diese Botschaft schwerer über die Lippen, als wenn es sich um einen Mord gehandelt hätte. Irgendwie empfand sie den Suizid als viel persönlicher und emotionaler als eine Tötung durch eine andere Person. Doch mit der Reaktion, die Laureen daraufhin zeigte, hatte sie nicht gerechnet.