1. Kapitel
***Donnerstag – Gegenwart***
Die Langeweile brachte Oberkommissarin Theda Saathoff fast um. In den vergangenen Wochen war auf Wangerooge genauso viel passiert, wie sie es bei ihrer Versetzung auf die Ostfriesische Insel einst befürchtet hatte: Nichts! Absolut Nichts!
Da ihr Partner heute freihatte, saß sie zu allem Überfluss auch noch ganz allein in der kleinen Polizeiwache und überlegte, was sie gegen den unerträglichen Zustand unternehmen könnte. Da sie aber weder einen Mord begehen noch einen beauftragen wollte, musste sie sich wohl oder übel damit abfinden, dass auch der heutige Tag aus ermüdender Routine bestehen würde.
Sie lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und ließ anschließend ihre Finger wie einen Kamm durch ihren langen blonden Pferdeschwanz gleiten. Sie öffnete die Kamera-App ihres Smartphones und kontrollierte ihr Make-up. Sie fragte sich, ob es wohl ausreichen würde, um den ganzen Tag über ihre Müdigkeit zu verbergen.
Es war definitiv ein Fehler gewesen, ihre Freundinnen mitten in der Woche zu sich in ihre Jeveraner Wohnung einzuladen. Denn obwohl Theda gewusst hatte, dass sie am heutigen Morgen mit der ersten Fähre zum Dienst fahren musste, hatte die Frauenclique sich erst nach Mitternacht voneinander trennen können.
Sehnsüchtig schaute sie die Treppe hinauf, die zu der kleinen Einliegerwohnung führte, in der die auf dem Festland lebende Oberkommissarin immer dann übernachtete, wenn ihre Dienstzeiten so gar nicht mit der Tide zusammenpassen wollten. Ob sie sich einfach in das gemütliche Bett legen und eine Runde schlafen konnte? Ob sie nun hier war oder nicht, würde doch ohnehin niemandem auffallen.
Doch genau in dem Moment, als sie sich für ein dienstliches Nickerchen entschieden hatte, klingelte das Telefon. »Das darf doch nicht wahr sein«, stöhnte sie genervt auf und griff nach dem Hörer. »Polizeiinspektion Wangerooge, Oberkommissarin Saathoff.«
Als Theda realisierte, wer sich am anderen Ende der Leitung befand, streckte sie reflexartig den Rücken durch und formte ihre vollen, geschwungenen Lippen zu einem freundlichen Lächeln. Thilo Eckhoff war zwar nicht unbedingt ihr Typ, aber wie viele seiner männlichen Altersgenossen wagte auch der Neunundzwanzigjährige bei Gelegenheit einen unverfänglichen Flirt mit der überaus attraktiven Polizistin. Und da diese die Aufmerksamkeit der Männerwelt genoss, spielte sie das Spiel gerne mit.
Doch dem großgewachsenen Mann mit den zur Seite gekämmten schwarzen Haaren und den weichen Gesichtszügen war heute zur Abwechslung mal nicht zum Flirten zumute. »Moin Theda. Ich bin’s, Thilo.«
Auch die Oberkommissarin bemerkte sofort, dass seine Stimme viel bedrückter klang als sonst. »Ist etwas passiert?«, fragte sie daher direkt. »Geht es Aalderk und Gudrun gut?«
»Meine Eltern haben zwar nicht mehr alle Tassen im Schrank, aber ansonsten fehlt ihnen nichts«, stellte Thilo sofort klar. »Ich rufe wegen Petra Brürch an.«
»Petra wer?« Theda hörte diesen Namen zum ersten Mal. Dabei glaubte sie, nach mittlerweile eineinhalb Jahren Dienst auf Wangerooge jeden Insulaner zu kennen.
»Sie lebt schon lange sehr zurückgezogen. Seit ihr Mann vor ungefähr drei Jahren gestorben ist, habe ich sie auch nicht mehr gesehen. Darum kennst du sie vielleicht gar nicht.«
»Und was ist jetzt mit ihr?«
»Du weißt doch, dass ich neben der Arbeit im Fischimbiss meiner Eltern noch einen morgendlichen Lieferservice für Brötchen übernommen habe.«
»Jetzt sag bitte nicht, die Brötchen der Dame sind gestohlen worden«, unterbrach Theda ihn.
»Nein, ganz im Gegenteil.«
»Im Gegenteil?« Theda sehnte sich mehr denn je nach einem Bett. Sie war einfach zu müde für ein derartiges Gespräch. »Haben die Brötchen sich etwa wie von Geisterhand vermehrt oder was?«
Thilo seufzte. Er spürte, dass die Polizistin ihn nicht mehr ernst nahm, und befürchtete, dass dies nach seiner folgenden Erklärung nicht viel besser werden würde. »Bitte halte mich nicht für paranoid …«, schickte er deshalb vorweg, »… aber als ich ihr heute Morgen ihre Dauerbestellung in den Jutebeutel legen wollte, der immer an ihrer Wohnungstür hängt, waren da noch die Brötchen vom Vortag drin.«
»Die Brötchen vom Vortag waren also noch in der Tasche«, wiederholte Theda die Information, um zunächst ihren innerlichen Zusammenbruch verarbeiten zu können, ehe sie weitersprach. »Und warum denkst du, ist das jetzt ein Fall für die Polizei? Soweit ich die Rechtslage kenne, kann niemand zu einem ausgiebigen Frühstück gezwungen werden.«
»Aber was ist, wenn ihr etwas passiert ist?«, hielt Thilo dagegen. »Ich beliefere sie schon seit etlichen Monaten. Noch nie hat sie vergessen, die Brötchentüte reinzuholen.«
Geräuschvoll sog Theda die Luft durch die Nase ein, während sie erneut sehnsüchtig die Treppe hinaufschaute. War ein Brötchendelikt es wirklich wert, das erste dienstliche Nickerchen ihres Lebens zu verschieben? »Hat sie denn keine Angehörigen oder Freunde auf der Insel, die einen Schlüssel zu ihrer Wohnung haben oder wenigstens ihre Telefonnummer kennen?«
»Soweit ich weiß, nein.«
»Hast du mit den Nachbarn gesprochen?«, wollte die Oberkommissarin wissen.
»Habe ich. Aber keiner weiß etwas. Auch die haben sie seit Jahren so gut wie gar nicht mehr zu Gesicht bekommen. Und die, die sie gelegentlich mal vor dem Haus angetroffen haben, meinten, sie wäre mit der Zeit immer sonderbarer geworden.«
»Kannst du mir das etwas genauer erläutern?«
»Sie hat die Leute nicht zurückgegrüßt und ist nach den zufälligen Aufeinandertreffen immer sofort wieder in ihrer Wohnung verschwunden.«
»Manche Leute benehmen sich mit zunehmendem Alter aber auch einfach sonderbar«, gab Theda zu bedenken.
»So alt ist die aber noch gar nicht. Sie ist maximal siebzig, wenn ich mich nicht total täusche. Ihr Mann Hans war mindestens zehn Jahre älter als sie und ist mit Mitte siebzig gestorben. Das weiß ich noch ganz genau. Dementsprechend könnte sie auch erst Mitte sechzig sein.«
Seufzend gab Theda ihren Traum vom Nickerchen auf. Die frische Nordseeluft würde vielleicht auch ihre Lebensgeister wecken. Sie erkundigte sich nach der Adresse, beendete das Telefonat und verließ die Polizeiwache, um zu ihrem Dienstrad zu gehen. Auf der autofreien Insel Wangerooge, die auch die Insel der kurzen Wege genannt wurde, war das blau-weiße E-Bike fast immer die erste Wahl, wenn sie schnell von A nach B kommen musste.
Wenige Minuten später hatte sie bereits das aus roten Backsteinen gemauerte Mehrfamilienhaus erreicht. In dem Objekt befanden sich insgesamt sechs Wohnungen, die sich auf drei Etagen verteilten. Gemäß Thilos Beschreibung lebte die Vermisste im Erdgeschoss. Da die gläserne Tür des Haupteingangs offen stand und zudem mit einem Holzkeil fixiert worden war, hatte sie keine Probleme, ins Innere des Gebäudes zu gelangen.
Auch die Tür, an der ein getöpferter Leuchtturm-Besucher darauf hinwies, dass hier Hans und Petra Brürch wohnten, hatte sie schnell gefunden. An dem Türknauf hing eine prallgefüllte rote Tasche. Darin müssen sich die Brötchen der letzten zwei Tage befinden, dachte Theda und fand, dass es für eine alleinstehende Frau ganz schön viele waren.
Entschlossen klingelte die Oberkommissarin an der Tür und wartete. Als sie auch nach längerer Zeit im Inneren der Wohnung keine Anzeichen von Bewegung ausmachen konnte, wiederholte sie den Vorgang. Dieses Mal rief sie jedoch laut und deutlich »POLIZEI! Machen Sie bitte auf!« hinterher.
Doch anstelle der vor ihr liegenden Wohnungstür öffnete sich plötzlich der Eingang auf der gegenüberliegenden Seite. Ein älterer Mann trat heraus und schaute die Kommissarin freundlich an. Er war maximal einen Meter fünfundsechzig groß, hatte schütteres graues Haar und einen viel zu dicken Bauch. Theda hatte ihn schon einige Male gesehen, konnte sich aber gerade nicht an seinen Namen erinnern. »Haben Sie Frau Brürch in den letzten achtundvierzig Stunden zu Gesicht bekommen?«, fragte sie ihn.
»Ich kann die zufälligen Treffen, die ich mit ihr in den letzten Jahren hatte, an einer Hand abzählen«, sagte er und klang dabei ein wenig bedrückt. »Nach dem Tod ihres Mannes wollte ich ihr gerne zur Seite stehen. Doch ich stand immer genauso da wie Sie jetzt.« Er deutete auf die Oberkommissarin. »Mir hat sie auch nie geöffnet.« Mit gesenktem Blick ging er Richtung Haupteingang, verabschiedete sich und verließ das Gebäude.
Theda dachte nach. Wenn Petra Brürch wirklich so zurückgezogen gelebt hatte, wie sollte sie dann herausfinden, ob die Frau ihr einfach nur nicht öffnete oder überhaupt gar nicht zu Hause war? Sie ging nach draußen und umrundete das Gebäude, um einen Blick durch die Terrassentür und die nach hinten rausgehenden Fenster zu werfen. Vielleicht war die gute Dame einfach nur taub und saß gerade seelenruhig an ihrem Küchentisch, während Thilo und sie sich vollkommen unnötig Sorgen um sie machten.
Doch ein kurzer Blick genügte und Theda musste erkennen, dass die Sorgen des Brötchenlieferanten mehr als berechtigt gewesen waren. Hektisch schaute sie sich um. Sie brauchte irgendetwas, um das Glas zu zertrümmern. Sie rannte zurück zur Seite des Gebäudes, schnappte sich einen der großen Keramiktöpfe, in denen sich ausschließlich vertrocknete Pflanzen befanden, und warf ihn mit aller Wucht gegen die Scheibe.
Es klirrte laut. Glasscherben flogen umher. Theda griff durch das Loch und legte den Hebel um, sodass sie die Terrassentür von außen öffnen konnte. Dann stürmte sie hinein und packte reflexartig die in der Luft baumelnden Beine der Vermissten. Sie glaubte zwar nicht, dass ihr Leben noch zu retten war, aber sie wollte sich hinterher auch keine Vorwürfe machen müssen.
»Oh mein Gott!« Dem Postboten Deeke Oltmanns stand der Schock ins Gesicht geschrieben. Er hatte das laute Scheppern gehört und war ebenfalls hinter das Haus geeilt, um nach dem Rechten zu sehen. Seine blauen Augen, die sonst stets einen jugendhaften Charme versprühten, starrten fassungslos zur Zimmerdecke hinauf. »Sie baumelt ja an der Decke!«
»Nun steh da nicht wie angewurzelt, sondern hilf mir gefälligst!«, schrie Theda ihn an. Sie wollte den leblosen Körper so schnell wie möglich von der Decke holen.
Zögerlich betrat Deeke die Wohnung, stellte sich neben die Inselpolizistin und schaute sie fragend an. Dem sonst so lockeren und kommunikativen Postboten fehlten in dieser Situation einfach die Worte.
»Stell die Trittleiter hin …«, Theda deutete mit ihrem Kopf auf das am Boden liegende Hilfsmittel, »… und hilf mir, sie da runterzuholen!«
Entgegen ihrer Anweisung packte der großgewachsene Postbote ebenfalls nach den in der Luft baumelnden Beinen und hievte dann den leblosen Körper gerade so weit nach oben, dass sich die Öse, mit der die Schlinge an dem Metallhaken in der Decke befestigt war, lösen konnte.
Der Körper der hageren Frau war nicht besonders groß, weshalb Theda und Deeke keine große Mühe damit hatten, ihn auf dem Fußboden abzulegen. Im gleichen Moment wurde der Oberkommissarin klar, dass sie jegliche Resthoffnung fahren lassen konnte. Petra Brürch war definitiv tot, und das auch nicht erst seit ein paar Stunden. Dennoch raste bei beiden der Puls. Schließlich fand man nicht jeden Tag einen einsamen Menschen, der sich aus lauter Verzweiflung auf derart grausame Weise das Leben genommen hatte.
»Wie ist sie wohl da rauf gekommen?«, fragte Deeke und blickte zur Zimmerdecke hinauf.
Theda schaute sich um. Dabei fiel ihr Blick erneut auf die kleine Trittleiter, die auf dem Boden lag. Sie zeigte darauf. »Die ist noch ausgeklappt«, sagte sie. »Ich vermute, dass sie zunächst auf den Hocker gestiegen ist. Nachdem sie dann die Öse der Schlinge an dem Haken befestigt und ihren Kopf hindurchgesteckt hat, wird sie den Tritt wohl mit den Füßen zur Seite gekickt haben.«
Bei dieser Vorstellung zog sich bei Deeke alles zusammen. Er überlegte, was wohl im Kopf der Frau vorgegangen war, als sie realisieren musste, dass diese Art des Freitodes langwieriger und schmerzhafter war, als sie es sich vorgestellt hatte. Er hatte mal im Fernsehen eine Reportage über Hinrichtungsmethoden gesehen und wusste daher, dass das Erhängen ein langsamer und qualvoller Tod sein konnte, wenn man die Schlinge nicht so knöpfte, dass sie dem Verurteilten sofort das Genick brach. Und die Schlinge, die immer noch um den Hals der Frau hing, sah alles andere als professionell aus. »Ist das ein Elektrokabel?«
Theda bückte sich und betrachtete die Halspartie der toten Frau genauer. »Sieht so aus«, stimmte sie ihm zu. Nachdenklich ließ sie ihren Blick schweifen und entdeckte auf dem Boden einen geflochtenen Hängesessel. Der hat bestimmt vorher hier gehangen, kombinierte sie. Wahrscheinlich hat sie für ihre Selbsttötung einfach das genommen, was sich ohnehin schon in ihrer Wohnung befand.
»Die arme Frau«, seufzte Deeke mitleidig. »Sie muss wirklich verdammt einsam gewesen sein.«
Nachdenklich betrachtete Theda ihn einen Moment lang. »Du kennst doch auf dieser Insel Gott und die Welt. Hast du mal mit irgendwem über sie gesprochen?«
»Mit anderen Leuten nicht, aber ab und zu habe ich sie selbst kurz zu Gesicht bekommen.«
Die Oberkommissarin erinnerte sich an das, was die Nachbarn zu Thilo gesagt hatten. »Ist sie dir auch merkwürdig vorgekommen?«
Deeke nickte. »Und wie! Es hat immer eine Ewigkeit gedauert, bis sie mir die Tür geöffnet hat. Die Türkette hat sie dabei nie gelöst. Es war gar nicht so einfach, auf diesem Wege eine Unterschrift von ihr zu bekommen.«
»Eine Unterschrift?«, wunderte Theda sich. »Seit wann muss man denn unterschreiben, wenn die Post kommt?«
»Bei normalen Briefen und Paketen muss man das auch nicht. Aber bei manchen Einschreiben muss der Empfang der Postsendung vom Empfänger quittiert werden.«
»Aber Pakete musstest du ihr doch auch überreichen, oder? Die werden ja wohl kaum in den Briefkasten gepasst haben.«
»Sie hat gar keinen Briefkasten, sondern einen Türschlitz.«
»Du Klugscheißer! Da passen Pakete aber auch nicht durch.«
»Das stimmt«, sagte Deeke. »Frau Brürch bekam auch nicht wirklich oft Pakete, und wenn, dann habe ich die in der Holzkiste hinter dem Haus …«, er deutete auf das zerbrochene Terrassenfenster, »… abgelegt. Die generelle Ablagegenehmigung gilt schon seit einigen Jahren. Ich glaube, damals lebte ihr Mann sogar noch.«
Diese Worte erinnerten Theda an die Türkette, die Petra Brürch angeblich nie geöffnet hatte, wenn der Postbote vor ihrer Tür stand. »Und sie hat dir wirklich nie komplett die Tür geöffnet?« Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern ging direkt zur Eingangstür. Dabei war sie von den vielen beschrifteten Zetteln, die überall in der Wohnung hingen, so abgelenkt, dass sie Deekes zustimmendes Nicken überhaupt nicht mitbekam.
Als sie den Eingangsbereich erreicht hatte, entdeckte sie sofort die zahlreichen ausgedruckten Fotos, die an zwei großen Pinnwänden hingen. »Hier hängt ein Bild von dir!«, rief sie Deeke zu.
»Was?« Es dauerte nicht lange und der Postbote stand neben ihr. »Wieso hängt da ein Foto von mir?«
Theda zuckte die Achseln, dann las sie den Text vor, der neben und unter dem Foto stand. Er war am PC verfasst und neben das Foto gedruckt worden. »Deeke Oltmanns. Postbote. Bringt deine Pakete direkt in die Holzkiste hinter dem Haus. Falls er doch mal klingelt: Öffnen, Moin sagen, lächeln und ihm die Hände entgegenstrecken, damit er dir die Post geben kann.«
»Ganz zu Anfang hat sie das auch immer genauso gemacht«, erinnerte Deeke sich. »Nur der Part mit den Händen fiel irgendwann weg, nachdem sie das Vorhängeschloss nicht mehr geöffnet hat. Es war aber auch immer etwas merkwürdig, wenn sie mir beide Hände entgegenstreckte, obwohl ich nur ein Einschreiben und eine Reklamesendung für sie hatte.«
Nachdenklich las Theda den Zettel ein weiteres Mal. Dann überflog sie die Anweisungen neben den übrigen Fotos. »Das ist doch nicht normal«, zog sie schließlich ein Fazit. »Man hat ja den Eindruck, als hätte Petra Brürch selbst die normalsten Tätigkeiten nicht mehr ohne Anleitung hinbekommen.«
»Ich habe mal eine Serie gesehen, in der eine ältere Frau zunehmend an Demenz litt«, sagte Deeke. »Die wollte aber nicht, dass ihre Tochter sich Sorgen macht, und hat sich daher alles aufgeschrieben und die Zettel auf den Innenseiten ihrer Küchenschränke versteckt. Ist natürlich auf Dauer nicht gutgegangen.« Er presste die Lippen zusammen und schaute zu der Leiche hinüber.
»Von verstecken kann hier absolut keine Rede sein«, entgegnete Theda und machte eine präsentierende Handbewegung in Richtung der Pinnwände. »Aber da sie ja anscheinend niemanden mehr in die Wohnung gelassen hat, gab es dafür ja auch keinen Grund. Sie scheint sich vielmehr hier drinnen vor der Außenwelt barrikadiert zu haben.« Theda schaute auf die Tür und zuckte überrascht zusammen, als sie das geöffnete Kettenschloss bemerkte. »Hast du nicht gesagt, das war immer verschlossen?«
Deeke nickte. »War es auch. Zumindest in den letzten ein bis eineinhalb Jahren.«
»Oder hat Frau Brürch sie immer erst zugemacht, bevor sie dir geöffnet hat? Du meintest doch, es hätte immer eine Ewigkeit gedauert, bis sie dich durch den Türspalt hindurch angesehen hat.«
Der Postbote schüttelte den Kopf. »Das hätte ich gehört«, war er sich sicher. »Ich glaube vielmehr, dass es so lange gedauert hat, weil sie mich erst einmal erkennen …«, er deutete auf den Türspion, »… und zuordnen musste.« Sein Finger wanderte zu seinem Foto hinüber.
»Könnte es sich bei den Einschreiben, die quittiert werden mussten, um Mahnungen gehandelt haben?« Theda überlegte, ob neben der Einsamkeit auch Schulden die arme Frau zum Äußersten getrieben haben könnten.
»Das fällt eigentlich unter das Briefgeheimnis«, sagte Deeke, gab ihr aber durch ein eindeutiges Kopfnicken zu verstehen, dass sie mit ihrer Annahme vermutlich richtiglag. »Zuletzt kamen immer mehr solcher Einschreiben und es wurde immer schwieriger, ihr durch den schmalen Türspalt hindurch klarzumachen, dass ich ihr die Briefe erst aushändigen darf, nachdem sie mir den Erhalt quittiert hat. Ich glaube, sie war zuletzt so ganz und gar nicht mehr auf der Höhe.« Zur Untermauerung seiner Einschätzung ließ er seinen Zeigefinger neben seiner Schläfe kreisen.
Seit sie sich der Haustür genähert hatte, verspürte Theda ein mulmiges Gefühl im Bauch. Irgendetwas stimmte hier nicht, auch wenn alles nach dem Suizid einer einsamen, verwirrten und eventuell auch überschuldeten Frau aussah, die die Türkette vielleicht auch nur deshalb geöffnet hatte, weil sie wollte, dass man sich leichter Zugang zu ihrer Wohnung verschaffen konnte, um ihre Leiche zu bergen. Doch war sie zu solchen Gedanken überhaupt noch fähig gewesen, wo sie sich doch selbst die alltäglichsten Routinen aufschreiben musste?
Theda bedankte sich bei Deeke für seine Unterstützung und bat ihn, noch nicht mit anderen Insulanern über das Erlebte zu sprechen. Sie hatte zwar wenig Hoffnung, dass der kommunikative Postbote bei seiner weiteren Arbeit tatsächlich die Klappe halten würde, aber was blieb ihr schon anderes übrig? Sie hatte schließlich nicht damit gerechnet, eine Leiche zu finden und eine Scheibe einschlagen zu müssen, als sie zur Rückseite des Hauses gegangen war, um nachzusehen, ob Petra Brürch die Klingel eventuell nur nicht gehört hatte. Dass ausgerechnet genau in diesem Moment auch noch Deeke vor dem Haus stand, hätte sie ja nicht ahnen können.
Die Bewohner der oberen Stockwerke schienen nicht zu Hause zu sein oder aber sie hatten das Klirren der Fensterscheibe nicht gehört. Auf jeden Fall war keiner heruntergekommen, um nach dem Rechten zu sehen. Sollten sie das laute Geräusch hingegen bewusst ignoriert haben, würde das Thedas Meinung nach viel über die Isolation der Verstorbenen aussagen. Denn eigentlich pflegten die meisten Insulaner ein sehr enges Verhältnis untereinander. Schließlich war man in den kalten Wintermonaten, wenn sich nur vergleichsweise wenige Touristen auf die Insel verirrten, oft unter sich und teilweise auch auf die gegenseitige Unterstützung angewiesen.
Sie zückte ihr Handy und rief Onno an. Es war ihr ein wenig unangenehm, ihn an seinem freien Tag zu stören, aber sie hatten vereinbart, sich bei Unsicherheiten dieses Ausmaßes jederzeit anrufen zu dürfen.
»Moin Theda, ist etwas passiert?« Die Stimme des Hauptkommissars klang besorgt. Er wusste, dass seine Partnerin ihn nicht stören würde, wenn es nicht wirklich wichtig war.
Theda fasste für ihn die Geschehnisse der vergangenen Minuten zusammen und schilderte ihm auch ihre Unsicherheit hinsichtlich des Suizides.
Onno musste kurz nachdenken, ehe er eine Entscheidung treffen konnte. »Ich habe Petras Mann noch kurz kennengelernt, bevor er verstorben ist«, murmelte er ins Telefon. »Bleib, wo du bist! Ich komme zu dir, um mir vor Ort selbst ein Bild von der Lage zu machen.«