***Gegenwart – Donnerstag***
Müde stieg Theda Saathoff die Treppe hinunter, die direkt von ihrer Einzimmerwohnung in die darunterliegende Polizeiwache führte. Die spartanische Behausung war eigentlich nur als vorübergehende Lösung für Aushilfskräfte gedacht, die außer der Reihe auf Wangerooge übernachten mussten. Doch seit ihrem Amtsantritt vor etwa zwanzig Monaten war sie für die junge Oberkommissarin nach und nach zu einem zweiten Zuhause geworden, in dem sie mittlerweile mehr Zeit verbrachte als in ihrer Mietwohnung im friesischen Jever.
»Moin Onno!«, begrüßte sie ihren Partner, der bereits an seinem Schreibtisch saß und irgendetwas in den Computer eintippte. Hinter ihrem Nacken zähmte sie ihre langen blonden Haare mittels eines Gummibandes zu einem Pferdeschwanz.
»Moin Theda!« Der Hauptkommissar schaute von seinem Monitor auf. »Gut geschlafen?« Vielsagend grinsend schaute er sie an. Der zweifache Vater wusste genau, dass seine Kollegin die Nacht nicht allein verbracht hatte.
»Sehr gut! Vielen Dank der Nachfrage.« Theda ging bewusst nicht auf seine Provokation ein, sondern widmete sich stattdessen der Kaffeemaschine. Claas und sie waren jetzt seit gerade einmal vier Monaten zusammen und sahen sich aufgrund seiner Dienstzeiten auf dem Festland nur selten. Daher wurde in den wenigen gemeinsamen Nächten meist kaum geschlafen. Sie hoffte, dass viel Koffein ihr über den Tag helfen würde.
»Ist Claas schon weg?«
»Er hat die erste Fähre um 06:30 Uhr genommen.«
»Hat er heute auch Dienst?«
Theda nickte, setzte sich an ihren Schreibtisch, umklammerte den Kaffeebecher mit beiden Händen und nahm einen vorsichtigen Schluck. »Was liegt heute an?«
»Heute ist Wooge-Party im Kurpark. Die startet schon um 10:00 Uhr mit einem Kinderflohmarkt und endet erst gegen 23:00 Uhr mit einer Queen-Coverband. Da ist also den ganzen Tag ordentlich was los.«
Theda seufzte. Sie mochte den idyllischen Rosengarten, der sich mitten im Inseldorf befand. Mit seinen vielen Sitzgelegenheiten und der großen Wiese lud er ohnehin schon immer viele Touristen zum Verweilen ein. Sie konnten dort auch die Atmosphäre auf dem Boule-Platz oder die wunderschönen Rosenbeete genießen. Doch Großveranstaltungen wie die Wooge-Party bedeuteten für sie immer lästige Polizeiarbeit, auf die sie so überhaupt keinen Bock hatte. Es war immer wieder erschreckend, bei was für Lappalien ihr Partner und sie als Schlichter eingreifen mussten.
Onno wusste genau, was seine Kollegin gerade dachte. Es war ein offenes Geheimnis, dass sie die freie Stelle auf Wangerooge nur angetreten hatte, weil ihr dafür eine schnellere Beförderung in Aussicht gestellt worden war. Doch aller negativen Gerüchte zum Trotz gefiel ihm die Zusammenarbeit mit der zwölf Jahre jüngeren Oberkommissarin, und er hoffte, dass sie länger auf der Insel bleiben würde, als sie es ursprünglich geplant hatte. »Wir können halt nicht jeden Tag einen Mord aufklären«, sagte er achselzuckend.
»Leider nicht«, sagte Theda. Im Gegensatz zu ihrem Partner, der sich vor Jahren aus Hannover auf die Ostfriesische Insel hatte versetzen lassen, um es ruhiger zu haben, liebte sie die Aufklärung von Kapitalverbrechen. »Ein kleiner Mord würde mir ja schon reichen.« Sie grinste. »Dann könnte ich Claas wenigstens heute nochmal sehen.«
Bei dem Gedanken daran, dass das Oberkommissar-Paar zukünftig selbst zu Mördern werden würde, um sich so öfter sehen zu können, musste Onno schmunzeln. »Das wäre mal toller Stoff für einen Hollywood-Film«, scherzte er, nachdem er seiner Partnerin von der Idee erzählt hatte.
»Ich werde das mal mit Claas diskutieren«, lachte Theda. »Mit seiner Erfahrung bei der Spurensicherung weiß er schließlich genau, worauf wir bei unseren Taten achten müssen, um hinterher nicht dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.« Sie zwinkerte Onno grinsend zu.
»Vergiss aber Hauptkommissarin Evers nicht!«, ermahnte Onno sie spielerisch. »Nicht, dass ausgerechnet sie euch auf die Schliche kommt.«
Theda musste an ihren ersten Kuss mit Claas denken. Sie hatten in Wilhelmshaven im Kino gesessen, als ausgerechnet dessen resolute Kollegin und deren Lebenspartner den Saal betraten. Claas wollte aufstehen und die beiden begrüßen, doch Theda hielt ihn davon ab und überzeugte ihn schlussendlich mit einem Kuss davon, ihr ›Versteck‹ in der letzten Reihe nicht preiszugeben. »Die ist viel zu viel mit sich selbst beschäftigt, um zu bemerken, dass wir beide ein Paar sind.« Obwohl ihre Gefühle für Claas jeden Tag stärker wurden, hatte sie sich mit ihm darauf verständigt, ihre Beziehung vor allem im Kollegenkreis nicht an die große Glocke zu hängen. Da sie in früheren Jahren schon das ein oder andere Stelldichein mit verheirateten Kollegen gehabt hatte, wollte sie nicht, dass ihre ernsten Absichten mit Claas durch das Getratsche des polizeilichen Flurfunks torpediert wurden.
Das Telefon klingelte und Onno nahm den Hörer ab. »Polizeiinspektion Wangerooge, Hauptkommissar Renken am Apparat … Nun beruhigen Sie sich erst einmal!«
Theda wurde hellhörig. Würde ihr Arbeitstag vielleicht doch noch richtig spannend werden?
»Seit wann ist Ihre Frau denn verschwunden?«
Ein Vermisstenfall, war Theda enttäuscht. Auf einer so kleinen Insel wie Wangerooge dauerte die Aufklärung eines solchen Falles in der Regel nicht lange.
Onno schaute auf seine Uhr. »Aber das sind ja noch nicht einmal neun Stunden.« Er schaute seine Partnerin an, rollte mit den Augen und machte eine wegwerfende Handbewegung. Bei erwachsenen Personen war dieser Zeitraum erfahrungsgemäß viel zu kurz, um sich bereits ernsthaft Sorgen machen zu müssen.
Theda nahm einen weiteren Schluck Kaffee. Auf den Adrenalinkick einer spannenden Ermittlung würde sie heute wohl doch verzichten müssen.
»Es mag ja sein, dass Ihre Frau und Sie prominent sind«, ging Onno weiter auf den Anrufer ein. »Aber gerade Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, brauchen auch mal eine Auszeit von allem. Und da bietet Wangerooge mit seinen weiten Stränden hervorragende Möglichkeiten. Ihre Frau hat heute Morgen, als Sie noch geschlafen haben, bestimmt nur ganz spontan einen Spaziergang zum Strand gemacht und ist dabei einfach immer weitergelaufen.«
Beim Stichwort ›Prominent‹ wurde Theda wieder hellhörig. Ob sie den Anrufer und die Vermisste kannte? Sie ging zum Schreibtisch ihres Partners hinüber und aktivierte die Lautsprech-Funktion an seinem Telefon.
»Als ich das erste Mal um das Ostende der Insel spaziert bin, habe ich auch total unterschätzt, wie lange so ein Fußmarsch dauern kann«, versuchte Onno seinen Gesprächspartner weiter zu beruhigen.
»Aber dann hätte sie mich doch bestimmt angerufen.«
Die Stimme des Mannes kam Theda bekannt vor. Dennoch konnte sie nicht sagen, um wen es sich bei dem Anrufer handelte. Unabhängig davon fand sie, dass er ernsthaft besorgt klang.
»Das Mobilfunknetz ist an abgelegenen Stellen der Insel nicht immer zuverlässig«, behauptete Onno, ohne wirklich zu wissen, ob dies für den ein oder anderen Netzbetreiber überhaupt zutraf. »Abgesehen davon ist es da draußen so schön, dass Ihre Frau wahrscheinlich nur die Zeit vergessen hat. Sicher starrt sie nur aufs Meer hinaus oder beobachtet Seehunde, die sich am Strand ausruhen.«
Der Mann am anderen Ende der Leitung, der sich gegenüber dem Hauptkommissar als Karsten Sieverts vorgestellt hatte, atmete schwer. »Ich weiß ja, dass Sie eventuell recht haben, aber …«
»Erwachsene, die im Vollbesitz ihrer geistigen und körperlichen Kräfte sind, haben das Recht, ihren Aufenthaltsort frei zu wählen. Sie sind dabei nicht verpflichtet, diesen ihren Angehörigen oder Freunden mitzuteilen.« Onno musste an seine Dienstjahre in Hannover denken. »Wenn die Polizei jeden Volljährigen, der seit wenigen Stunden vermisst wird, suchen würde, hätten wir keine Zeit mehr für andere Aufgaben.«
»Sie haben ja recht.« Die Stimme des Anrufers klang fast schon entschuldigend. »Es ist nur wegen diesem blöden Streit. Wahrscheinlich ist meine Frau deshalb allein unterwegs. Sie will bestimmt nur in Ruhe ihre Gedanken sortieren. Bitte entschuldigen Sie die ganze Aufregung, die ich verursacht habe. Auf Wieder…«
Noch bevor Karsten Sieverts auflegen konnte, mischte Theda sich in das Gespräch ein. »Sie hatten Streit?«
Die Verwunderung über die weitere Stimme, die sich plötzlich in der Leitung befand, war dem Anrufer deutlich anzumerken.
»Das ist meine Kollegin, Oberkommissarin Theda Saathoff. Sie hat das Gespräch mitgehört«, klärte Onno die Situation auf. Er hatte sich an die impulsive Art seiner Partnerin längst gewöhnt und regte sich in der Regel nicht mehr darüber auf, wenn sie ihm ins Wort fiel oder sich ungefragt in seine Gespräche einmischte.
»Meine Frau und ich hatten keinen Streit. Sie hat sich mit ihren Brüdern gestritten«, stellte Karsten Sieverts richtig.
»Entschuldigen Sie bitte die Nachfrage, aber ich war nicht von Anfang an bei dem Gespräch dabei. Sind die Brüder Ihrer Frau Insulaner?«
Der Anrufer verneinte diese Frage. »Die Mutter meiner Frau ist …«, er räusperte sich, »… sie war Insulanerin. Meine Frau und meine beiden Schwager leben aber schon sehr lange auf dem Festland.«
»Ihre Schwiegermutter war Insulanerin?«, hakte Onno nach. Er fragte sich, ob er sie noch kennen konnte. »Wann hat sie denn die Insel verlassen?«
»Sie ist vor ein paar Monaten verstorben.«
Jetzt fiel es Onno wie Schuppen von den Augen. »Ihre Schwiegermutter war Diertje Sieverts. Entschuldigen Sie bitte, bei Ihrem Nachnamen hätte ich auch gleich darauf kommen können.«
»Kein Problem.« Der Anrufer klang verständnisvoll. »Ich habe bei der Hochzeit den Namen meiner Frau angenommen. Das führt immer wieder zu Verwirrung, weil die meisten Leute immer noch davon ausgehen, dass es andersherum sein müsste.«
»Dann sind Sie DER Karsten Sieverts?«, fragte Theda und schaute ihren Partner mit großen Augen an. Als sie bemerkte, dass er mit dem Namen nicht wirklich etwas anzufangen wusste, klärte sie ihn durch eine weitere Nachfrage auf. »Der Moderator von ›Paarzeit‹, der wöchentlichen TV-Show für Langzeitbeziehungen?«
Karsten Sieverts konnte den Stolz in seiner Stimme nicht vollständig verbergen. »Sie kennen unsere Sendung?«
»Kennen? Ich liebe sie!«, antwortete Theda und bemerkte bei aller Euphorie überhaupt nicht, wie sie vollkommen ihre Professionalität verlor.
»Danke, das freut mich sehr. Lieben Sie schon lange in einer Langzeitbeziehung?«
Theda war kurz davor auszuflippen. Genau mit dieser Einstiegsfrage, bei der das Wort ›Leben‹ durch ›Lieben‹ ersetzt wurde, begrüßte das Moderatorenehepaar immer seine anrufenden Zuschauer. »Mein Freund und ich sind erst seit einigen Monaten zusammen, aber dank der Tipps aus Ihrer Sendung könnte es mit Sicherheit etwas Langfristiges werden.«
Onno hatte die TV-Show weder gesehen noch je von ihr gehört. Seine Jantje und er waren aber auch so schon beinahe vierundzwanzig Jahre zusammen und davon immerhin auch schon über fünfzehn Jahre verheiratet. Er hätte Theda und Claas also mindestens genauso gut Tipps geben können, wollte das Telefonat jedoch stattdessen lieber wieder auf das eigentliche Thema zurücklenken. »Sind Ihre Schwager denn aktuell auch auf Wangerooge?«
»Ja. Alle Geschwister sind auf die Insel gekommen, um über den Nachlass ihrer Mutter zu sprechen.«
»Haben Ihre Frau und ihre Brüder sich wegen der Erbschaft gestritten?«
»Leider ja.«
Bei Theda läuteten zaghaft die Alarmglocken. Nachlassstreitigkeiten hatten schon oft zu unschönen Familiendramen geführt. Auch ein Mord lag bei so etwas durchaus im Rahmen des Möglichen. Würde sie Claas heute eventuell doch noch einmal sehen? »Wann war dieser Streit?«, wollte sie daher genauer wissen.
»Gestern Abend.«
Die beiden Inselkommissare tauschten einen aufgeregten Blick. Könnte der Ehemann mit seinem Bauchgefühl doch richtigliegen?
Andererseits hielt Onno es auch immer noch für wahrscheinlich, dass die Vermisste sich bei einem langen Spaziergang nur den Kopf vom frischen Nordseewind freipusten lassen wollte. »Und worum ging es in dem Streit genau?«
»Immer noch um die blöde Villa«, sagte Karsten. Er klang bedrückt. »Die Brüder wollen das Objekt verkaufen, aber meine Frau ist weiterhin dagegen.«
»Weiterhin?«, fasste Theda nach. »Wie lange dauert der Streit denn schon an?«
»Der begann eigentlich schon direkt nach dem Tod meiner Schwiegermutter.«
Onno verzog die Mundwinkel. Die Tatsache, dass der Zwist schon über Monate zwischen den Geschwistern schwelte, senkte für ihn die Wahrscheinlichkeit, dass gerade der gestrige Konflikt eskaliert sein könnte. Doch dann fiel ihm ein, wann Karsten seine Frau zuletzt gesehen haben wollte. »Sie sagten, Sie haben Ihre Frau zuletzt gestern Nacht gesehen. Wie spät war das genau?«
»Sie hat gestern um 23:30 Uhr unser Ferienhaus verlassen.«
Theda wunderte sich, dass er die Uhrzeit so exakt benennen konnte. »Wieso sind Sie sich da so sicher?«, wollte sie daher wissen.
»Sie wollte sich mit ihren Brüdern am Strand treffen.«
Durch diese Aussage verwandelten sich Thedas eher dezente Alarmglöckchen in eine unüberhörbare Alarmsirene. »Trotz des vorangegangenen Streits?«
Karsten schnappte hörbar nach Luft. »Die Familie hat da so eine Tradition.«
»Das jährliche Mitternachtsschwimmen«, fiel Onno ihm ins Wort. Er kannte den Familienbrauch. Diertjes verstorbener Vater Frerich hatte ihn eingeführt, nachdem er seine Frau bei einem mitternächtlichen Spaziergang zufällig am Strand getroffen und sich beim gemeinsamen Schwimmen in sie verliebt hatte.
»Genau das«, stimmte Karsten ihm zu. »Meine Frau hatte die Hoffnung, dass ihre Brüder in diesem Rahmen noch einmal mit sich reden lassen würden.«
»Und sie ist danach definitiv nicht nach Hause gekommen?« Von ihren Freundinnen kannte Theda etliche Storys von Männern, die so tief schliefen, dass sie angeblich selbst von einem im Garten abstürzenden Hubschrauber nicht aufwachen würden. »Oder haben Sie vielleicht so tief geschlafen, dass Sie sowohl das Nachhausekommen als auch das frühmorgendliche Aufstehen Ihrer Frau nicht bemerkt haben könnten?«
»Als treue Zuschauerin unserer Sendung wissen Sie sicher, dass ich es immer bin, der von jedem kleinen Geräusch im Haus aufwacht, während meine Frau seelenruhig weiterschlummert. Aber selbst, wenn es letzte Nacht anders gewesen sein sollte, könnte ich mir dann immer noch nicht ihr unbenutztes Bett erklären.«
»Vielleicht hat sie auf dem Sofa geschlafen, um Sie nicht zu wecken«, hatte Onno sofort eine mögliche Erklärung parat.
»Ich hoffe so sehr, dass Sie recht haben«, schluchzte Karsten, ehe er vollkommen in Tränen ausbrach.
Nachdem er sich einigermaßen zügig wieder beruhigt hatte, sicherten die Inselpolizisten ihm zu, Augen und Ohren offenzuhalten. Sollten sie irgendwie erfahren, wo sich die bekannte TV-Moderatorin aufhielt, würden sie sich sofort telefonisch mit ihm in Verbindung setzen. Zu diesem Zweck ließen sie sich von ihm seine Handynummer geben.
Karsten Sieverts bedankte sich für das Gespräch und versprach seinerseits, sofort Entwarnung zu geben, sollte seine Frau wieder zurückkehren.
Leicht verunsichert legte Onno den Telefonhörer auf. Da er im Laufe seines Berufslebens schon so vieles erlebt hatte, fiel es ihm schwer, nicht gleich bei den geringsten Anzeichen den Teufel an die Wand zu malen. Dennoch konnte er sich nicht vorstellen, dass die Brüder der Vermissten dumm genug gewesen waren, ihre Schwester nach dem vorangegangenen Streit vorsätzlich zu töten.
»Ich glaube, die Brüder haben sie verschwinden lassen, damit sie endlich die Villa verkaufen können«, äußerte Theda ihre eigene Theorie.
Onnos Augenbrauen zogen sich zusammen. »Jemanden, der von jetzt auf gleich verschwunden ist, kann man nicht so ohne Weiteres für tot erklären lassen. Ich denke, diese Strategie würde die Verkaufspläne der Geschwister eher hinauszögern. Außerdem konnten die beiden ja nicht ahnen, dass ihre Schwester nach dem vorangegangenen Streit doch noch zum traditionellen Nachtschwimmen kommen würde. Wenn überhaupt, war es wohl eher eine spontane Tat.«
Theda presste die Lippen aufeinander. Sie mochte es nicht, wenn ihr Partner recht hatte. »Weißt du, um welche Villa es geht?«
Der Hauptkommissar nickte. »Es ist dieses weiß verputzte Gebäude mit den blau umrandeten Fenstern, den blauen Dachziegeln und dem kleinen Türmchen.«
»Ach das«, ging Theda sofort ein Licht auf. Sie hatte das auffällige Objekt schon oft gesehen, wusste aber nicht, wem es gehörte. »Hast du eine Ahnung, was die Villa wert ist?«
Geräuschvoll ließ Onno die Luft aus seinem Mund entweichen. »Das ist wirklich schwer zu sagen. Ich kenne den Zustand des Gebäudes nicht. Aber wir reden hier sicherlich von einem Millionenbetrag.«
Die Augen der Oberkommissarin weiteten sich. Auch wenn solche Summen für Objekte auf den Ostfriesischen Inseln nicht ungewöhnlich waren, waren es für sie immer noch utopische Beträge. Nie im Leben würde sie sich eine so teure Immobilie leisten können. »Leute haben schon für weniger gemordet«, stellte sie fest.
Onno seufzte, musste gleichzeitig aber auch schmunzeln. »Du hast wirklich keinen Bock auf die Wooge-Party, was?«
»Nee!«, lachte Theda.
Onno griff nach seinem Fahrradhelm und setzte ihn sich auf den Kopf. Früher hatte er sich mit der Kopfbedeckung immer etwas unwohl gefühlt, doch seit sie die kahle Stelle an seinem Hinterkopf verdeckte, trug er sie deutlich lieber.
»Wo willst du hin?«, fragte Theda überrascht. Sie schaute auf die Uhr. »Der Kinderflohmarkt beginnt doch erst in eineinhalb Stunden.«
»Wir fahren mal zur Villa der Familie Sieverts und schauen dort nach dem Rechten. Vielleicht ist die Vermisste zum Ursprung des Streites gelaufen, um dort in Ruhe über alles nachzudenken.«
Theda huschte ein dankbares Lächeln über das Gesicht. Sie wusste, dass ihr Partner dies nur ihr zum Gefallen tat. »Oder wir treffen auf die Brüder. Dann können wir sie fragen, wann sie zuletzt ihre Schwester zu Gesicht bekommen haben.« Auch sie schnappte sich ihren Fahrradhelm. »Wie viel willst du eigentlich noch abnehmen?«, fragte sie beeindruckt, als sie hinter ihm aus der Polizeiwache lief und ihr dabei seine erschlankten Seiten aufgefallen waren.
In den letzten fünfzehn Monaten hatte Onno sukzessive sein Gewicht reduziert und auf diese Art und Weise bereits zehn Kilogramm verloren. Seitdem man ihm quasi ein Model in Uniform an die Seite gestellt hatte, hatte er sich mit seinem leichten Übergewicht noch unwohler gefühlt als ohnehin schon. »Ich habe mein Zielgewicht vergangene Woche erreicht«, sagte er stolz.
»Darf ich fragen, wie viel du jetzt noch wiegst?«
»77 Kilogramm.«
Respektvoll schob Theda die Unterlippe vor. Sie kannte viele Männer, die im Laufe ihrer Langzeitbeziehungen an Gewicht zugelegt hatten. Dass dieser Effekt auch umkehrbar war, gab ihr Hoffnung, dass es bei ihrem Claas gar nicht erst dazu kommen würde.
***
Da Wangerooge auch als Insel der kurzen Wege bekannt war, benötigten die Kommissare nur wenige Minuten bis zu der besagten Villa. Sie stellten ihre E-Bikes ab und gingen auf das Objekt zu, in dem auch immer einzelne Zimmer an Touristen oder Monteure vermietet wurden.
»Weißt du, wie die Kinder von Diertje Sieverts aussehen?«, fragte Theda.
Onno zuckte die Achseln. »Ich habe sie vielleicht schon mal gesehen, bin mir aber nicht sicher.« Er konnte sich Namen und Gesichter eigentlich nur dann gut merken, wenn er den dazugehörigen Personen regelmäßig begegnete.
In diesem Moment öffnete sich die Haustür der Villa und zwei Männer, die in ihren Fünfzigern zu sein schienen, traten hinaus. Beide hatten dunkles, grau meliertes Haar, das an den Schläfen von großen Geheimratsecken gezeichnet war. Auch bei Körpergröße und Statur gab es kaum Unterschiede, sodass die beiden Inselpolizisten darauf spekulierten, es mit den gesuchten Brüdern zu tun zu haben.
»Moin Onno«, begrüßte einer der beiden den Hauptkommissar freundlich. »Wer ist denn deine Begleitung?«
Onno schaute den Mann genau an, konnte sich aber beim besten Willen nicht an ihn und erst recht nicht an seinen Namen erinnern. Dass dieser ihn jedoch offensichtlich kannte, während Onno ihn nicht erfolgreich in seinem Gedächtnis abgespeichert hatte, löste bei dem Hauptkommissar ein Gefühl von Unwohlsein aus, das ihm leider nicht fremd war. Er befand sich nicht zum ersten Mal in einer solch unangenehmen Situation.
»Theda Saathoff«, kam seine Partnerin ihm zu Hilfe, da sie annahm, ihr Kollege würde mal wieder unter seinem bekannten Namensschluckauf leiden. »Aber Theda reicht.« Da einer der beiden Onno geduzt hatte, wollte sie nicht anders behandelt werden. Sie streckte dem Mann die Hand entgegen. »Ich bin seit fast zwei Jahren der zweite Sheriff auf diesem Eiland. Und wer seid ihr?«
»Eike.« Der Ältere der beiden griff sichtlich überrascht nach der dargebotenen Hand. Von der neuen Polizistin auf der Insel hatte er noch nichts mitbekommen. »Diese schöne Villa hinter mir …«, er ließ seinen Kopf leicht in den Nacken fallen, »… gehörte unserer verstorbenen Mutter. Mein Bruder und ich leben aber schon seit vielen Jahren auf dem Festland und kommen nur noch zu bestimmten Anlässen nach Wangerooge zurück.« Er schaute den neben ihm stehenden Mann an.
»Und du bist?«, fragte Theda, nachdem sie den Eindruck hatte, dass der jüngere der beiden Männer sich nicht von sich aus vorstellen würde. Auch ihm streckte sie zur Begrüßung die Hand entgegen.
»Marten«, antwortete dieser sichtlich verunsichert.
»Er ist das Nesthäkchen der Familie«, übernahm Eike wieder das Reden.
»Und wo ist eure Schwester?«, fragte Theda. Sie hatte die beiden mit dieser Frage ganz bewusst überrumpeln wollen, um so ihre spontane Reaktion besser bewerten zu können.
»Unsere Schwester? Du meinst Feemke?«
»Habt ihr denn noch eine andere Schwester?«, mischte sich jetzt auch Onno wieder in die Unterhaltung ein. Nachdem er durch den bisherigen Gesprächsverlauf wieder wusste, wie die drei Kinder der verstorbenen Diertje Sieverts hießen, musste er sich schließlich keine Gedanken mehr über in dieser Hinsicht peinliche Unterbrechungen machen. Sein Grinsen verriet seinem Gesprächspartner dabei eindeutig, dass er die Antwort auf seine Frage bereits kannte.
»Wir haben keine Ahnung, wo Feemke ist«, antwortete Eike. »Warum wollt ihr das denn wissen?« Mit einer Mischung aus Verunsicherung und Wut schaute er seinen Bruder an.
Onno war der nervöse Blickkontakt der beiden Männer sofort aufgefallen, weshalb er entschied, noch nichts über den eigentlichen Hintergrund seiner Frage zu verraten. »Wenn wir uns hier, nach so langer Zeit, zufällig treffen, ist es doch ganz normal, danach zu fragen, ob Feemke auch auf der Insel ist«, sagte er daher so beiläufig wie möglich.
Eikes Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Wenn du mich danach gefragt hättest, hätte ich dir das abgekauft«, sagte er. »Aber da deine uns bis gerade noch nicht bekannte Kollegin …«, er schaute Theda an und lächelte gequält, »… uns nach Feemke gefragt hat, befürchte ich, dass ihr schon einen konkreten Grund habt, warum ihr hier seid.«
Jetzt waren es Onno und Theda, die einen fragenden Blick tauschten.
»Eike hat wirklich nichts Schlimmes gemacht«, meldete sich überraschenderweise Marten wieder zu Wort.
Die Inselkommissare wurden sichtlich hellhörig.
Eike warf seinem Bruder einen stechenden Blick zu, ehe er wieder das Wort an sich riss. »Wir hatten gestern einen Streit mit Feemke. In diesem Zusammenhang kam es auch zu einem hitzigen Wortgefecht, an dessen Ende sie einen Kugelschreiber nach mir geworfen hat. Sie hat mich allerdings nicht getroffen.« Er grinste Onno an. »Mädchen halt.«
Onno ignorierte seinen chauvinistischen Einwurf.
Theda hingegen hatte sich da weniger unter Kontrolle. »Vielleicht hat sie ja auch mit Absicht vorbeigeworfen, um dich lediglich zu erschrecken«, gab sie zu bedenken.
»Mag sein«, tat Eike diesen Gedanken ab. »Auf jeden Fall habe ich sie getroffen, als ich den Stift zurückgeworfen habe. Und mein Bruder hier …«, er schaute ihn an, als sei er gerade einmal fünf und nicht ungefähr zehn Mal so alt, »… hatte gleich Sorge, unsere liebe Schwester könne mich wegen Körperverletzung anzeigen.« Sein Lächeln erstarb schlagartig. Fassungslos schaute er die Polizisten an. »Ihr seid doch nicht deshalb hier, oder?«
Theda schüttelte den Kopf. »Nein. Von einer Körperverletzung wissen wir nichts. Wir …« Im selben Moment klingelte ihr Diensthandy. Sie warf einen flüchtigen Blick auf das Display. Eine ihr unbekannte Handynummer hatte auf dem Festnetz der Wache angerufen und war via Rufumleitung an das Smartphone weitergeleitet worden. Wird schon nicht so wichtig sein, dachte sie und beschloss, den Anruf zu ignorieren.
»Wir sind hier, weil der Mann eurer Schwester sie heute Morgen als vermisst gemeldet hat«, ließ Onno die Katze jetzt doch aus dem Sack. Das nicht verstummende Vibrieren des Diensthandys ließ ihn dabei auf die Hosentasche starren, in der seine Partnerin das Mobiltelefon verstaut hatte.
»Ich gehe doch mal lieber ran«, sagte Theda zu ihm, entfernte sich ein paar Meter und fummelte beim Gehen das Smartphone aus der Tasche.
»Sie macht wahrscheinlich nur einen Spaziergang um die Insel«, spielte Onno die Situation herunter, nachdem er in die plötzlich sorgenvollen Gesichter seiner Gesprächspartner geschaut hatte. »Wir wollten eigentlich nur mal nachsehen, ob sie vielleicht zu ihrem Elternhaus gelaufen ist und dort die Zeit vergessen hat. Dabei seid ihr uns zufällig über den Weg gelaufen.«
»Onno! Wir müssen sofort los!« Hektisch winkte Theda ihren Partner zu sich. »Am Strand wurde eine Leiche gefunden.«