1. Kapitel

 

Es ist Samstag, der 23. Dezember. Morgen ist Heiligabend, aber das hat meinen Chef nicht davon abgehalten, uns heute noch bis zum bitteren Ende arbeiten zu lassen. »Am letzten Tag vor Weihnachten haben wir den besten Umsatz«, hat er immer wieder gesagt, wenn die Kollegen ihn davon haben überzeugen wollen, doch wenigstens schon gegen Mittag Feierabend machen zu dürfen. Doch seine Aussage stimmt nur teilweise. Für unseren Fabrikverkaufsshop mag er recht haben. Es ist immer wieder erstaunlich, wie viele Männer am letzten verkaufsoffenen Tag vor dem Weihnachtsfest zu uns kommen, um auf den letzten Drücker eine Wok-Pfanne oder einen Kochtopf für ihre Liebste zu kaufen. Aber für die Produktion oder auch den Online-Vertrieb, für den unter anderem ich verantwortlich bin, stimmt diese Aussage eindeutig nicht.

In fünf Minuten ist es endlich sechzehn Uhr. Normalerweise würden dann die meisten so schnell wie möglich nach Hause zu ihren Familien, Ehepartnern oder Lebensabschnittsgefährten stürmen, um sich auf das morgige Fest vorzubereiten. Doch nicht so bei der Kesselschmidt GmbH. Hier ist der letzte Arbeitstag vor dem Heiligen Abend traditionell auch der Tag unserer Weihnachtsfeier. Warum? Keiner weiß es ganz genau. Doch bei den Beschäftigten, die schon länger hier sind, hat sich die feste Überzeugung etabliert, dass unser Chef und Firmengründer Herbert Kesselschmidt diesen wiederkehrenden Termin festgelegt hat, um einfach nur Geld zu sparen.

Auf jeden Fall ist er der größte Geizhals, den ich kenne. Selbst Dagobert Duck würde neben ihm wie ein spendabler Wohltäter wirken. Gerüchten zufolge ist das Budget, mit dem seine Sekretärin Merle die komplette Feier planen darf, so gering, dass es niemals reichen würde, sollten tatsächlich alle seine fünfunddreißig Mitarbeiter auf der Party erscheinen. Und selbst für die wenigen, die trotz der mageren Aussichten in den vergangenen Jahren geblieben waren, um einige Stunden mit den Kollegen zu feiern, soll es wohl nur für ein wenig Knabberei und Alkohol vom Discounter gereicht haben.

Ich selber habe noch an keiner einzigen Weihnachtsfeier teilgenommen, sondern bin immer gleich nach Hause gefahren, um Mama mit den Vorbereitungen zu helfen. Seit mein Vater gestorben ist, feiern wir Weihnachten nur noch zu zweit. Er ist gestorben, als ich achtzehn gewesen bin. Das ist jetzt acht Jahre her. Seitdem bin ich der Mann im Haus, wie Mama es immer sagt. Ich habe zwar ab und zu schon einmal daran gedacht auszuziehen, aber da meine Mama keinen Führerschein hat und wir ziemlich weit außerhalb wohnen, ist sie auf meine Hilfe angewiesen. Abgesehen davon teilen wir uns die Kosten für Einkäufe, Strom, Gas und Miete, wodurch ich jede Menge Geld für später zurücklegen kann.

Das Firmengelände der Kesselschmidt GmbH befindet sich seit über dreißig Jahren auf der grünen Wiese zwischen der Gemeinde Sande und der Stadt Schortens. Direkt neben der Produktionshalle steht ein altes, zweigeschossiges Backsteingebäude, in dem die Vertriebsmitarbeiter, Büroangestellten und so weiter untergebracht sind. Mein Büro liegt im Erdgeschoss. Es ist nicht besonders groß, aber ich habe es für mich allein. Ein Privileg, um das mich wahrscheinlich alle Kollegen beneiden. Da ich jedoch der Einzige in der Firma bin, der sich in IT-Fragen auskennt, hat der Chef wohl zu viel Angst, dass ich kündigen könnte, wenn er mir dieses Sonderrecht nimmt. Ich würde das zwar nie tun, aber irgendwie muss der Fachkräftemangel ja auch Vorteile haben.

Um 15:59 Uhr blicke ich kurz aus dem Fenster. Bei den aktuellen Temperaturen sind weiße Weihnachten wohl auch in diesem Jahr nur Utopie. Durch meine offenstehende Bürotür sehe ich bereits einige Kollegen zum Besprechungsraum gehen. Dort soll unsere Weihnachtsfeier stattfinden. Ich tue so, als würde ich noch an meinem Computer arbeiten, dabei schiele ich die ganze Zeit so unauffällig wie möglich über den Monitor hinweg in den Flur. Und dann kommt sie endlich: Merle! Sie ist der einzige Grund, warum ich überhaupt zur Weihnachtsfeier gehe. Vor ein paar Tagen hat sie überraschend ihren Kopf durch meine Bürotür gesteckt, mich angelächelt und gefragt, ob ich auch kommen würde. Da habe ich nicht Nein sagen können. Mama habe ich erzählt, ich müsse Überstunden machen, da vor Weihnachten unbedingt noch eine spezielle Unterseite der Firmenhomepage fertiggestellt werden muss. Ich habe sie noch nie zuvor angelogen.

Ich habe gehofft, Merle würde stehen bleiben und mich abholen, aber sie ist, wie alle anderen auch, einfach an meinem Büro vorbeigegangen. Da sie aber die ganze Feier geplant hat und dementsprechend auch für deren reibungslosen Ablauf verantwortlich ist, hat sie jetzt gerade sicher etwas anderes im Kopf. Hastig schalte ich den PC aus und eile aus dem Büro. Ich muss mich sputen, damit ich möglichst in ihrer Nähe sitzen kann.

Durch die offenstehende Tür des Besprechungszimmers dringt ›Last Christmas‹ von ›Wham!‹ an mein Ohr. Doch als ich das Zimmer betrete, muss ich enttäuscht feststellen, dass die Plätze neben Merle bereits besetzt sind. Ich gehe um den lang gezogenen Tisch herum, der nahezu den kompletten Raum ausfüllt. Neugierige Blicke und Getuschel verfolgen mich. Keiner der Anwesenden hat wohl damit gerechnet, dass ich zur Feier erscheinen würde. Keiner, außer Merle.

Ich setze mich neben Klaus, einen der Kollegen, die ich am wenigsten leiden kann. Er ist riesig, hat ein breites Kreuz, ein grobschlächtiges Gesicht und eine extrem große Nase. Wenn er einen mit seinen kühlen, blauen Augen anschaut, hat man immer das Gefühl, er könnte einem grundlos und ohne Vorwarnung auf die Fresse hauen. Es kostet mich wirklich Überwindung, den Stuhl neben ihm zurückzuziehen und darauf Platz zu nehmen. Aber ich will unter allen Umständen so dicht wie möglich bei Merle sitzen. Ich weiche Klaus’ ungläubigem Blick aus, indem ich mich voll auf Merle fokussiere, die mir nun schräg gegenübersitzt.

Doch Klaus lässt sich nicht so ohne Weiteres ignorieren. »Sieh mal an, wer da ist!«, ruft er so laut, dass schlagartig alle Blicke auf ihn und mich gerichtet sind. »Wenn das mal nicht unser Spätzchen ist!« Er klopft mir auf den Rücken, als wären wir alte Freunde. Dabei trifft mich sein Schlag so hart zwischen die Schulterblätter, dass mein Oberkörper nach vorne geschleudert wird und ich beinahe mit dem Gesicht auf der Tischplatte aufschlage.

Ich lächle gequält und schiebe mit dem Zeigefinger meine Brille zurück an ihre ursprüngliche Position. Seitdem er mich einmal zufällig beim Einkaufen getroffen und dabei dummerweise gehört hat, welchen Kosenamen meine Mama auch heute noch für mich verwendet, spricht er mich nicht mehr mit meinem richtigen Namen an. Da mich die vielen Augenpaare, die mich aktuell beobachten, sehr unsicher machen, greife ich nach dem Glas mit den Salzstangen, nehme ein paar in die Hand und schiebe mir eine nach der anderen in den Mund.

Als Klaus gerade wieder etwas zu mir sagen will, betritt zum Glück der alte Kesselschmidt den Raum. Er hält eine kurze, definitiv nicht einstudierte Rede und verzieht sich dann unter dem Vorwand eines dringenden Telefonates sofort wieder in sein Büro. Die übrigen Kollegen scheinen dieses Verhalten schon zu kennen. Keiner von ihnen macht zumindest den Eindruck, als wäre er vom schnellen Abgang des Chefs überrascht.

Merle steht auf und räuspert sich. Während sie darauf wartet, dass ihr alle Anwesenden Gehör schenken, streicht sie sich eine Strähne ihrer glatten, schulterlangen dunklen Haare hinter das Ohr und schaut mit ihren wunderschönen braunen Augen in die Runde. Zur Feier des Tages hat sie sich ein rotes Kleid angezogen, das ihr wahnsinnig gut steht. »Liebe Kolleginnen und Kollegen«, beginnt sie zu sprechen. Der liebliche Klang ihrer Stimme zaubert mir sofort ein Lächeln auf das Gesicht. »Die meisten von euch kennen ja schon den gewöhnlichen Ablauf unserer Weihnachtsfeier …«

»Und ob wir den kennen!«, unterbricht Klaus sie lautstark. Er greift demonstrativ nach einer der Noname-Wodkaflaschen, öffnet den Drehverschluss und füllt das vor ihm stehende Glas fast bis zur Hälfte mit der durchsichtigen Flüssigkeit. Alle anderen lachen. Aus einem mir unverständlichen Grund scheint er bei ihnen außerordentlich beliebt zu sein.

Auch Merle lächelt ihn an und wartet sogar noch, bis er die andere Hälfte des Glases mit Orangensaft gefüllt hat, ehe sie weiterspricht. »Aber in diesem Jahr habe ich eine kleine Überraschung für euch!«

»Wird unser Spätzchen für uns einen Striptease machen?« Wieder kracht Klaus’ Hand auf meinen Rücken. Und während ich noch mit dem Stückchen Salzstange kämpfe, das sich daraufhin in meine Luftröhre verirrt hat, führt er lachend sein Glas an die Lippen und nimmt einen kräftigen Schluck.

Merle schenkt mir einen mitleidigen Blick, der mich die Anwesenheit meines penetranten Sitznachbarn kurz vergessen lässt. Dann wendet sie sich wieder an die Runde, die mit wenigen Ausnahmen fast nur aus Männern besteht. »Mir ist es gelungen, für den heutigen Abend einen ganz besonderen Ehrengast für unsere Feier zu gewinnen.« Geheimnisvoll dreinschauend geht sie zur Tür. »Ich werde mal nachsehen, ob er schon da ist«, sagt sie, zwinkert mir zu und verlässt das Besprechungszimmer.           

Am liebsten wäre ich ihr sofort hinterhergelaufen. Schließlich ist sie der einzige Grund, warum ich überhaupt in einem Raum mit lauter Menschen sitze, die mich entweder nicht mögen oder aber immer so anschauen, als wäre ich ein Alien von einem extrem sonderbaren Planeten.

Die folgenden zehn Minuten versuche ich, so unauffällig wie möglich auf meinem Stuhl auszuharren, um Klaus möglichst keine Angriffsfläche zu bieten. Doch als der seinen ersten Wodka-O geleert hat, gerate ich wieder ins Fadenkreuz seines Aufmerksamkeitsradars.

»Was bekommt denn deine Mami von dir zu Weihnachten?«, will er lautstark von mir wissen und schenkt mir ungefragt Wodka in mein Glas.

Ich will ihm gerade vorsichtig erklären, dass ich keinen Alkohol trinke, als sich die Tür zum Besprechungsraum öffnet und jemand das Zimmer betritt, mit dem wohl niemand aus der Runde gerechnet hat.