Das Erste, was ihnen von Wangerooge ins Auge sprang, war der alte Westturm, das Wahrzeichen der Insel. Der sechsundfünfzig Meter hohe Turm war 1932 errichtet worden und wurde heute als Jugendherberge genutzt. Wie es sein Name bereits verriet, stand er am Westende der Insel.
Er entfernte sich mit ihr von der Gruppe, mit der sie am heutigen Vormittag lediglich eine Wanderung über die Insel machten. Dabei hatten sie sich bereits die Salzwasserlagune, die beim Deichbau 1912 entstanden war, angesehen und die Aussichtsdüne, die mit siebzehn Metern über Normalnull die höchste Stelle der Insel markierte, besucht. Jetzt jedoch standen sie in einem dichten Pulk aus jungen Touristen und den einheimischen Kursleitern vor dem neuen, über siebenundsechzig Meter hohen Leuchtturm.
»Weißt du eigentlich, warum das hier Café Pudding heißt?«, fragte Keno seine Partnerin, nachdem er den Bericht zu Ende gelesen hatte. Hedda löste sich von der wunderschönen Aussicht und wandte sich wieder ihrem Kollegen zu. »Ich hoffe nicht, weil es hier nur Pudding zu essen gibt«, wagte sie einen nicht ganz ernst gemeinten Rateversuch. »Zum Glück nicht. Es gibt auch Kuchen und Torte«, scherzte Keno. »Hast du schon mal den Ausdruck ›Um den Pudding gehen‹ gehört?« Die junge Ermittlerin nickte. Der Ausdruck war ihr durchaus geläufig. »Mein Vater hat das oft gesagt, wenn er sich abends noch kurz ein wenig die Beine vertreten wollte.«
»Stimmt«, erinnerte auch Keno sich. Dann las er weiter. »Danach war die Insel Teil der Herrschaft von Jever. Nach dem Tod von Maria von Jever im Jahr 1575 gehörte sie dann zur Grafschaft Oldenburg. Durch die Eindeichung der Harlebucht hatte man jedoch im siebzehnten Jahrhundert Land gewonnen und die angrenzenden Fürstentümer Ostfriesland und Oldenburg stritten plötzlich darum, wem es gehörte. Im Dezember 1666 schlossen daraufhin Fürstin Charlotte von Ostfriesland und Graf Anton Günther von Oldenburg einen Grenzvertrag. Sie ließen vom letzten Grenzpfahl, der sich damals zwischen Neufunnixsiel und Neugarmssiel befand, eine Linie zum Ostende von Spiekeroog in die Karten einzeichnen. Eine weitere Linie verband den alten Grenzpfahl mit dem Westende von Wangerooge. Zum Schluss wurden die sich gegenüberliegenden Enden der beiden Inseln mit einer Geraden verbunden, von deren Mitte aus mit goldener Farbe eine Linie bis zum alten Grenzpfahl gezogen wurde.«
»Schaut mal!«, rief Hedda und zeigte auf den Inselfriedhof, vor dem sie zufälligerweise zum Stehen gekommen waren. »Wollen wir 29 vielleicht Fiete die letzte Ehre erweisen, bevor wir morgen mit den Ermittlungen beginnen?« Nachdem alle ihrem Vorschlag zugestimmt hatten, betraten sie gemeinsam den Gottesacker. Trotz der Dämmerung erkannten sie schnell, wo sich die letzte Ruhestätte des Teenagers befinden musste. Fiete war vor elf Tagen verstorben und wegen der Obduktion erst vorgestern beigesetzt worden. Lediglich eines der Gräber war von einem großen Berg aus Blumenkränzen bedeckt. Es lag fast in der hintersten Ecke des Geländes.
Bereits wenige Minuten nach dieser Sichtung legte die Fähre im Hafen an. Nachdem die drei Ermittler das Schiff verlassen hatten, steuerten sie direkt auf die kleine Inselbahn zu, die sie zum vier Kilometer entfernten Ortszentrum bringen sollte. Der Anblick erinnerte Hedda sofort an ihren Aufenthalt auf Langeoog. Auch hier wurden die Passagiere der Fähre mit einem kleinen Zug weitertransportiert. Während die kleine Lok sie im gemütlichen Tempo mitten durch die Schutzzone des Nationalparks zog, hatten sie eine wundervolle Aussicht auf die Salzwiesen, die Westlagune und die Vögel, die noch nicht ihre Reise in den sonnigeren Süden angetreten hatten.
Westturm und Leuchtturm.