Während des Weges klärte Florians Mutter Hedda über den Grabstein auf, vor dem sie vor wenigen Minuten ihren Sohn gefunden hatten. Einer Sage nach hatte sich der holländische Kapitän Hendrik Dirks de Boer um 1849 mit seinem Schiff vor Baltrum im Watt festgefahren. Während er auf die nächste Flut wartete, schickte er einen seiner Männer auf die Insel, um Proviant und Schnaps zu kaufen. Dieser kehrte jedoch nur mit einem Kanten Schwarzbrot und einer Kanne Schafsmilch zurück. ›Gottsverdorn, up dat Eiland mugg ik net begraven wesen‹, soll er deshalb laut geflucht haben. Einige Jahre später lag das Schiff des Holländers dann abermals vor Baltrum auf dem Trockenen und genau in dieser misslichen Lage verstarb der Kapitän. Die Insulaner aber weigerten sich, den ›Dwarsbüngel‹ auf ihrem Friedhof zu begraben. ›De Keerl, de blifft buten in d’ Dünen‹, sollen sie gesagt haben. Ursprünglich wurde zur Kennzeichnung der Grabstelle ein hölzerner ›Doodpaal‹ aufgestellt. Dieser wurde jedoch später durch einen gemauerten Grabstein ersetzt.


 »Schau mal!«, rief Enno und zeigte auf eine dreigeteilte weiße Tafel mit blauer Schrift, vor der ein großer Stein an einer Schnur baumelte. Er zog seine Freundin hinter sich her und blieb direkt davor stehen. »Ostfriesisches Hüühdrograviehes Institut – Außenstelle Baltrum«, las Hedda die Beschriftung auf dem obersten Teil des geteilten Schildes vor. »Komische Schriftweise, muss wohl Ostfriesisch sein.« Der ehemalige Polizist breitete die Arme aus, legte den Kopf in den Nacken und schaute zum wolkenbehangenen Himmel hinauf. Er hatte das Gefühl, einen Regentropfen abbekommen zu haben. »Es funktioniert sogar«, sagte Hedda grinsend. »Hier steht: ›Stein wackelt sehr‹ bedeutet, dass wir Sturm haben.« Schmunzelnd überflog Enno die übrigen, nicht ganz ernst gemeinten Interpretationen der Wetterlage. »Aber ganz zuverlässig ist es auch nicht.« Der Regen war inzwischen deutlich spürbar. »Ansonsten müsste der Stein ja voller Möwendreck sein.« Er tippte auf die entsprechende Stelle, die besagte, dass der Stein in diesem Zustand ›Scheißwetter‹ voraussagen würde. 


Am äußersten Ende des Hafengeländes, direkt am Wasser, gab es eine rote Sitzbank, die als Sechseck um eine Laterne herum angeordnet worden war. Hedda und Enno setzten sich, um mit dem Handy ein Selfie von sich mit der tosenden Nordsee im Hintergrund zu machen. Die Wetterprognose sagte für die kommenden Tage viel Regen und stürmischen Wind voraus. Nicht gerade die idealen Bedingungen für einen erholsamen Urlaub, aber Hedda und Enno hatten sich fest vorgenommen, dennoch das Beste daraus zu machen. Direkt neben der roten Sitzbank entdeckten sie auch hier, wie in vielen anderen ostfriesischen Orten auch, ein Gitter, an dem Liebespärchen Vorhängeschlösser mit ihren Namen anbringen konnten.


Nachdem die beiden ihre Koffer ausgepackt hatten, machten sie einen kleinen Spaziergang durch den Ortskern. Die meisten Geschäfte und Restaurants hatten generell oder zumindest zu dieser Uhrzeit noch geschlossen. Die Highlights ihres Ausfluges waren daher ein Reklameschild mit der Aufschrift ›Torte macht glücklich‹, unter dem Hedda sofort für ein Foto posieren musste, und der obligatorische Wegweiser, der, wie in so vielen anderen ostfriesischen Touristenorten, die Entfernungen zum Wattenmeer, den Dolomiten, den Rocky Mountains, dem Grand Canyon und dem Great Barrier Reef anzeigte. »Wenigstens etwas, was es noch öfter zu geben scheint als die Gitter mit den Vorhängeschlössern«, kommentierte Enno ihren Fund trocken, während er gleichzeitig auf seine Uhr schaute. »Ich kriege langsam Hunger. Wollen wir uns schon mal umsehen, wo wir nachher etwas essen wollen?«


Gemeinsam mit Dackel Bernie gingen die beiden los. Sie hatten kein besonderes Ziel, mieden aufgrund des immer noch starken Windes lediglich den Sandstrand. Als sie an einem Briefkasten vorbeikamen, blieben sie kurz stehen. »Schau mal!«, sagte Hedda und zeigte auf die Tabelle mit den Leerungszeiten. »Hier steht: Die Briefkastenleerung findet von Montag bis Samstag einmal täglich statt. Wegen der Tideabhängigkeit ist leider keine genaue Uhrzeitangabe möglich.« »Die Abhängigkeit von den Gezeiten ist für einige Ostfriesische Inseln wirklich ein Manko«, kommentierte Enno. Während nämlich Norderney und Langeoog tideunabhängig angefahren werden konnten, war der Fährverkehr nach Borkum, Wangerooge, Spiekeroog, Juist und Baltrum permanent von Ebbe und Flut abhängig.


Da der Wind immer stärker wurde und ihnen zunehmend Sandkörner in die Augen trieb, beschlossen sie, ihren Spaziergang lieber im Ort fortzusetzen. Als sie an der reetgedeckten katholischen Kirche vorbeikamen, warfen sie einen Blick in den vorgelagerten Innenhof, in dessen Wände wunderschöne bunte Mosaikfenster eingelassen worden waren. Zwischen den überdachten Wegen, die direkt vor dem angrenzenden kreisförmigen Gotteshaus zusammentrafen, lag ein grünes Stück Wiese. »Oh mein Gott!«, schrie Hedda plötzlich entsetzt auf und zeigte direkt auf die Blumenschale, die in der Mitte der Rasenfläche platziert worden war.


»Normalerweise läuft er immer hierher!« Auch Angelika musste schreien, um das Tosen des Windes zu übertönen. Sie zeigte auf ein weiß lackiertes Fahrrad, das neben einer Hecke stand. An dem leicht angerosteten Rad war ein Schild angebracht worden. 50 Dat Rad is in Mors, las Hedda die Inschrift in Gedanken. »Er findet das so witzig, dass er immer wieder herkommt«, erklärte Angelika das wiederkehrende Verhalten ihres erwachsenen Sohnes. Erst jetzt bemerkte Hedda den Fahrradständer, der tatsächlich wie ein menschliches Hinterteil aussah. Der Vorderreifen des rostigen Drahtesels steckte sozusagen zwischen den beiden üppigen Pobacken. Das Rad ist wirklich im Arsch, dachte sie schmunzelnd.