Die 1858 erbaute Stiftsmühle war mit ihren dreißig Metern Höhe bereits von Weitem zu erkennen. Auch wenn Hedda nicht wirklich daran glaubte, hoffte sie doch, dass ihr der Zufall heute irgendwie eine neue Spur vor die Füße werfen würde.

 

Direkt vor dem Eingang wartete Hedda auf ihren heutigen Gesprächspartner. Neben der hölzernen, grün lackierten Tür stand ein Schild, auf dem bereits einiges Wissenswertes über die alte Mühle stand. So erfuhr sie beispielsweise, dass der fünfstöckige Unterbau aus über 200.000 Ziegelsteinen gemauert worden war und dass es neben der Stiftsmühle noch vier weitere Auricher Stadt­mühlen gegeben hatte. 


Der Name Upstalsboom setzt sich dabei aus den plattdeutschen Wörtern ›Boom‹ und ›upstallt‹ zusammen, da an den Versamm­lungsstätten oft ein Baum stand, an dem die friesischen Häuptlinge ihre Pferde aufgestallt hatten. In der Zeit des Nationalsozialismus sollte das Gelände des Upstalsbooms zu einem Thingplatz umge­staltet werden. Diese Freilichttheater hatten allerdings nur eine kurze Blütezeit und viele der geplanten Thingstätten wurden überhaupt nicht errichtet. So blieb auch das Auricher Gelände seit dem Jahr 1879 weitgehend unverändert.

 

Hedda und Enno durchquerten eine langgezogene, etwa achthun­dert Meter lange Allee. Den breiten Weg säumten dabei nicht nur zahllose Bäume, sondern auch etliche Hinweistafeln, die an die Bedeutung und den historischen Hintergrund der Stätte erinnerten, die sich am Ende des Weges befand. 


Als Treffpunkt wurde ihr der rot-weiße Signalturm vorgegeben, der direkt am Wasser stand. Wieder kannte Hedda nur den Namen ihres Gesprächspartners. Tamme schien jedoch noch nicht da zu sein. Zumindest sah sie weit und breit keinen Mann, der sich ebenso suchend umsah wie sie.

Hedda setzte sich auf die weiße Bank, die direkt an den runden Betonsockel grenzte, auf dem das Metallgestell des Signalturms fixiert worden war. Es war ein herrlicher Frühlingstag. Da die Sonne sie ein wenig blendete, schloss sie für einen Moment die Augen. Jetzt nur nicht einschlafen!, beschwor sie sich selbst.


Auf ihrem Weg dorthin kam sie auch am Pingelhus, einem weiteren Wahrzeichen der Stadt, vorbei. Es wurde um 1800 erbaut und diente der Treckfahrtsgesellschaft ursprünglich als Hafenwärter- und Speditionsgebäude. Zu dieser Zeit lag der Hafen nämlich noch dort, wo heute der Georgswall eine kurze Auszeit vom Shoppingstress bot. Wenn die Binnenschiffe, die sogenannten Schuiten, nach Emden ablegten, wurde dies damals stets durch das Schlagen der im Dach­reiter befindlichen Glocke angekündigt. Sie verlieh dem Gebäude schließlich auch seinen Namen. Denn auf Plattdeutsch bedeutet ›pingeln‹ nichts anderes als ›klingeln‹.

Seit 1959 wurde das Pingelhus unter anderem auch für Hochzeiten genutzt, bei denen auch heute noch ›gepingelt‹ wurde. Beim Anblick des niedlichen einstöckigen Backsteinbaus mit dem kirchenähn­lichen Glockenturm auf dem Dach musste Hedda an ihre bevor­stehende Vermählung mit Enno denken.


Ihr Blick blieb kurz am Sous-Turm hängen. Der fünfundzwanzig Meter hohe Turm, der aus mit Plexiglas verkleidetem Stahlrohr bestand, war ein heiß diskutiertes Kunstobjekt, zu dem es eigentlich nur zwei Meinungen gab. Entweder man fand ihn künstlerisch ansprechend oder aber abgrundtief hässlich. Manche Auricher ver­spotteten die moderne Plastik daher auch als ›Auricher Tauchsieder‹ oder aber als ›futuristischen Schrotthaufen‹.

Ebenfalls am Marktplatz befand sich das Knodtsche Haus, ein Bürgerhaus im niederländischen Spätbarockstil, das um 1735 errichtet worden war. Durch sein untypisches Mansarddach und das doppelläufige Treppenpodest, das zur Haustür hinaufführte, fiel der schmale, zweigeschossige Backsteinbau sofort ins Auge.