Sieben Tage lang nur wir zwei, dachte Hedda glücklich und schaute verliebt zu Enno hinüber, der ihre Hand hielt und mit ihr gemeinsam über den Deich spazierte. Von hier aus hatte man eine traumhafte Aussicht auf die Nordsee, aber auch die Inseln Norderney und Juist konnte man gut erkennen. Auf der großen Drachenwiese, die Deich und Nordsee voneinander trennte, tummelten sich unzählige Touristen. An diesem Wochenende war wieder einmal Internationales Drachenfest in Norddeich und unter dem wolkenfreien blauen Himmel schwebten wie jedes Jahr unzählige farbenfrohe Drachen in allen Größen und Formen herum.

 

»Schau mal, die Riesenkrake oder das coole Krokodil da hinten!« Begeistert scannten Ennos Augen das bunte Treiben am Himmel. Immer wenn er dabei etwas Besonderes entdeckte, wies er mit ausgestrecktem Arm darauf, um es auch Hedda zu zeigen.

 


Etwas oberhalb der Küstenline erblickte Enno ein längliches Gebäude, an dessen Seite eine Art Aussichtsturm angebaut worden war, der von seiner Optik stark an einen Leuchtturm erinnerte. Eine metallische Wendeltreppe führte die Touristen über drei Ebenen nach oben und bot ihnen von dort aus die Möglichkeit, mit einem Fernrohr nicht nur die Nordsee, sondern auch die vorgelagerten Inseln Norderney und Juist genauer in Augenschein zu nehmen. Die Fassade des Gebäudes war mit blauen und weißen Kacheln verziert, in deren Mitte sich eine breite Fensterfront befand.



Die Seehundstation war ein moderner Klinkerbau mit gläsernem Vorbau. Seehunde, die ihre Mutter verloren hatten – sogenannte Heuler –, wurden nach einer Quarantänezeit hier aufgenommen. Zunächst brachte man ihnen bei, ganze Fische zu schlucken. Anschließend mussten sie dann in größeren Becken lernen, ihre Nahrung selbstständig zu fangen. Erst wenn sie wirklich fit genug waren und auch genügend Gewicht zugelegt hatten, wurden sie schließlich wieder in die Nordsee entlassen. Nicht zuletzt durch Einrichtungen wie diese war es gelungen, die Seehundpopulation im niedersächsischen Wattenmeer in den letzten fünfundzwanzig Jahren von unter dreitausend auf fast zehntausend Exemplare zu steigern.

 


Auf dem Weg zur Seehundstation entdeckte Hedda einen Wegweiser, der ihr sehr bekannt vorkam. Er wies den Leuten den Weg zum nahe liegenden Wattenmeer, aber auch zum weit entfernten Great Barrier Reef, den Rocky Mountains oder dem Grand Canyon.

 

»Genau das gleiche Schild habe ich auch schon auf Langeoog gesehen«, sagte sie zu Enno.

 

»Wahrscheinlich findest du so eines an jedem Küstenort entlang der Nordsee«, lachte er.

 


Nur zwanzig Minuten später standen sie vor dem Kiosk, bei dem man auch die Eintrittskarten für das Labyrinth erwerben konnte. Die Verkäuferin erklärte den beiden noch, dass man in dem Irrgarten zwanzig Tafeln mit Fragen finden konnte. Wenn man alle gefunden hatte, musste man die jeweils richtigen Antworten nur noch auf einem Lösungszettel eintragen und beim Ausgang in eine Box werfen.

 

Das Labyrinth bestand aus einer dicht gewachsenen Thuja-Hecke. Die zurechtgeschnittenen Pflanzen überragten sogar Enno um mindestens einen halben Meter. Schummeln war also absolut unmöglich. In der Mitte des Irrgartens stand eine Brücke, von der aus man das komplette Gelände überblicken konnte. Dem zufriedenen Lächeln der Leute, die es bereits auf die Brücke geschafft hatten, entnahm Hedda, dass es sich gleichzeitig auch um den Weg zum Ausgang handeln musste.

 


 

Dann ließ sie ihren Blick über die Außenanlage schweifen. Einige Seehunde lagen faul am Beckenrand und dösten in der Sonne, andere tauchten durch das grünlich schimmernde Wasser und einer schwamm senkrecht wie ein Korken mit geschlossenen Augen an der Wasseroberfläche.

 

»Sieht aus, als würde er schlafen, stimmt’s?«, sprach der alte Mann Hedda von der Seite an.

 

»Tut er das denn nicht?«

 

»Nein, er relaxt nur ein wenig. Wenn die Tiere draußen in tieferen Gewässern auf Beutezug sind, legen sie auch häufiger mal so eine Ruhepause ein, um wieder zu Kräften zu kommen. Sie haben aber dennoch nicht ganz unrecht, Seehunde können auch im Wasser schlafen. Im flachen Wasser lassen sie sich dann einfach auf den Grund sinken«, erklärte er weiter.

 

»Müssen die denn gar keine Luft holen?«, fragte Hedda erstaunt.

 

Der alte Mann lachte so herzlich auf, dass seine grauen buschigen Augenbrauen dabei auf und ab wippten. »Nach etwa sieben Minuten kommen sie automatisch wieder an die Oberfläche, ohne dabei wirklich aufzuwachen. Dann holen sie kurz Luft und lassen sich erneut auf den Boden sinken.«